Gabriela Kasperski

Zürcher Filz


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wirkte zunehmend verärgert. «Am 22. Dezember. Zur Jahressitzung des Stiftungsrats.»

      «Ich dachte, sie interessiert sich nicht für die Stiftung?»

      «Tut sie auch nicht. Aber nun, da Alfredo tot ist, bleibt ihr nichts anderes übrig.»

      Beanie machte sich eine Notiz. «Ihre Stiftung vermietet Wohnungen?»

      «Suchen Sie eine?», fragte Claire zurück und nahm eine Zeitung aus der Handtasche. «Die freien Wohnungen werden jeden Donnerstag in der Stadtzürcher Zeitung publiziert. Die Rubrik ist beliebt.» Sie deutete auf eine Anzeige. «Diese Besichtigung ist morgen: fünf Zimmer, hundertzwanzig Quadratmeter, ohne Balkon, aber bezahlbar. – Eines eurer besten Häuser, nicht wahr, Schatz?»

      «K7», sagte Lombardi.

      «K7?», fragte Beanie.

      «‹K› steht für die Stadtkreise. K3 ist angesagt, K2 ist jüdisch geprägt, K8 für Neureiche, K4 fürs Vergnügen, K5 gentrifiziert, K6 für die Intellektuellen, K7 für die Kunst. Der teuerste und der begehrteste Kreis.» Lombardis Thema, es war deutlich zu merken.

      «Und was ist mit dem anderen Kreisen? K9 bis K13?»

      «Das ist die Agglo. Familien. Ausländer.»

      Arschloch, dachte Beanie. Sie las die Anzeige durch.

      «Eine öffentliche Ausschreibung? Wie viele Leute erwarten Sie?»

      «Über hundert», sagte Lombardi.

      «Du bist naiv», warf Claire ein. «Wenn ich eine Prognose wagen darf: Es werden tausend sein. Das bedeutet Stress für euch.»

      «Was soll ich machen?» Johannes sah zu Beanie. «Der alte Alfredo hat es so gewollt. Darum sind die Wohnungen so beliebt. Preisgünstig, immer öffentlich ausgeschrieben, alle bekommen die gleiche Chance.»

      «Wie wählen Sie am Schluss aus?»

      «Der Zufall entscheidet.»

      Wer’s glaubt, dachte Beanie. «Sie sitzen auf Gold.»

      Claire stimmte zu. «Für so eine Wohnung würden manche morden.»

      Johannes entwischte ein Lachen. «Claires Sinn für Humor. Sie sehen, es ist eine grosse Verantwortung, und Philomena scheut sich davor. Ich wette mit Ihnen, spätestens an Weihnachten ist sie da. Sie hat Geburtstag.»

      «Wie alt wird sie?»

      «Genauso alt wie Johannes», sagte Claire. «Einundfünfzig, aber sie sieht viel jünger aus.»

      «Wir feiern bei ihr in der Villa Riesbach. Sie hat es den Kindern versprochen», ergänzte Lombardi.

      «Sie ist wie Mary Poppins, erscheint dann, wenn man sie nicht erwartet.» Claire streichelte seinen Arm.

      «Wer hat Philomena eigentlich als vermisst gemeldet?» Lombardi wirkte plötzlich irritiert.

      «Die Gärtnerin», antwortete Beanie.

      «Eliane Fischer?» Er war fassungslos. «Sie veranstalten den ganzen Zirkus wegen der Fischer?»

      «Und weil ein Schmuckstück aufgetaucht ist, das Philomena Lombardi gehört.»

      «Wo?», fragte Lombardi. «Etwa bei Rubi Bachar im Vintage-Shop?»

      «Sie kennen sie?»

      Lombardi nickte. «Eine alte Freundin von Alfredo. Für ihn gab’s nur Häuser, Schmuck und edle Kleidung. Meine Ex-Frau hat die Leidenschaft von ihm geerbt. Nostalgiesucht. Sie sollten ihre Kleider sehen. Sie lässt sich alles schneidern, kauft nur vom Feinsten.»

      «Sie wollte keinen Schmuck kaufen. Sie wollte verkaufen.»

      «Verkaufen? Sie scherzen», sagte Claire. «Philomena ist reich.»

      Johannes winkte ab. «Alfredo war geizig, all sein Geld steckt in den Immobilien. Bares ist nicht viel da.»

      Nicht viel hiess in diesen Kreisen immer noch mehr als bei den meisten, dachte Beanie.

      «Dann wäre alles in Ordnung», sagte Claire. «Philomena braucht Geld für ihre Reisen, darum hat sie etwas Schmuck verkauft.»

      Beanie kam sich lächerlich vor in ihren Socken.

      «Ein Letztes noch.» An der Tür drehte sie sich um. Meiers Methode. War ihr geblieben. «Wem gehört das Ganze?»

      «Sie meinen die Stiftung? Das ist kompliziert.» Lombardi vermied Beanies Blick. «Bei mir steht eine Telefonkonferenz an, entschuldigen Sie. Ich muss raus, hier drin ist kein Empfang.»

      Ohne Beanies Nicken abzuwarten, verschwand er.

      «Er hat Stress», sagte Claire sanft. «Sehr viel Arbeit. Es sind Hunderte von Wohnungen.»

      Ehrliche Worte, wie es schien. «Hunderte? Auf der Website gibt es keine Auskünfte über die Immobilien.»

      «Der alte Lombardi wollte alles analog behalten. Die Wohnungsbewerber füllen die Formulare immer noch von Hand aus.»

      «Rückwärtsorientiert. Passt zur Zeitungsanzeige.»

      «Es ist ein ziemliches Chaos. Sie können sich vorstellen, die vielen Entscheide, die täglich anstehen. Johannes und die anderen versuchen ihr Möglichstes, um die Geschäfte reibungslos ablaufen zu lassen.»

      «Können Sie mir sagen, wer in der Geschäftsleitung sitzt?»

      Claire stutzte. «Sie waren doch auf der Website? Da sind Fotos von allen.»

      «Ich hör es gerne von Ihnen.»

      «Es sind nur drei Leute. Johannes. Alice Haag, Alfredo Lombardis Mitarbeiterin der ersten Stunde –»

      Beanie unterbrach. «Sie muss schon älter sein.»

      «Das hält sie geheim. Der Dritte ist Charles Bonvin, Alfredos Freund und Mentor, Philomenas Patenonkel, an die achtzig, denke ich. Dazu kommt Noah Sanders, der Nachwuchs. Er sitzt nicht in der Leitung, ist aber Projektleiter eines ambitionierten Umbauprojekts. Der ‹Giess-Hübel›. Bestimmt haben Sie in den Medien davon gelesen. Es ist die alte Lombardi-Wäscherei in Wiedikon, die in Familienwohnungen umgebaut wird. Noah Sanders soll frischen Wind reinbringen. Unmöglich, wenn Sie mich fragen. Er wirkt wie ein pubertierender Teenager. Johannes und ich hatten seinetwegen Streit. Ich weiss nicht, wie die drei dazu gekommen sind, ihn zu engagieren.»

      4

      Noah Sanders stellte den Sound auf laut. Der Elektrobeat fuhr ihm direkt in die Eier. Nun fühlte er sich nicht mehr so unwohl wie eben, als ihm klar geworden war, dass er zum ersten Mal ganz allein in dem Altstadthaus war. Das Lombardi-Büro an der Augustinergasse mochte ehrwürdig sein, innen drin war es veraltet. So veraltet wie die ganze Geschäftsleitung, die ihm nun auch noch den Abend versaut hatte.

      Alice Haags Anruf hatte Noah in einem Restaurant erwischt.

      «Es gibt Probleme, Herr Sanders. Immense Probleme. Wir berufen eine Notfallsitzung ein. Bereiten Sie alles vor.»

      «Heute Abend? Ich kann nicht.»

      Die Haag hatte einfach aufgelegt. Kotzkuh!

      Trotzdem war Noah sofort hergefahren, keine zehn Minuten hatte er gebraucht. Alles vorbereiten? Noah wusste genau, was Kotzkuh damit meinte. Sie betrachtete ihn als Sekretärin. Sie konnte ihn mal. Er holte weder Wasser noch Gläser, räumte weder Stifte auf den Tisch noch die Kaffeekanne weg. Es stank nach saurer Milch. Pfui Teufel! Noah war Veganer.

      Er sah sich die Nachrichten auf dem Handy an. Fünfmal Tine Kohlmann. Anklagend, fordernd, kämpferisch:

      «NESTBAU ist bereit für das Projekt ‹Giess-Hübel›. Wann können wir starten?»

      Die Frau ging ihm krass auf die Nerven. Dabei war er selbst schuld, er hatte ihr zu viel versprochen. Noah verspürte einen leichten Schmerz hinter den Augen, drückte eine Tablette aus der Packung und schluckte sie ohne Wasser.

      Relax,