Michael Dissieux

Die Legende von Arc's Hill


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besaß nicht ein Fenster. Das einzige Licht stammte von Öllaternen, die Mike in der Wohnung gefunden hatte, sowie zwei starken Taschenlampen. Eine widernatürliche, belastende Stille hing wie ein unsichtbarer Schleier in den niedrigen Räumen, die einem unheimlichen, lange verrotteten Grabgewölbe glichen. Das Zerbersten von morschem Holz und verhärteten Erdhaufen, das Knacken der flinken, aufgeschreckten Käfer unter Mikes Schuhen, sowie das angestrengte Keuchen seines Atems ob der unbequemen Haltung, in der er des Nachts diese Arbeiten verrichtete, waren die einzigen trostlosen Geräusche, welche das Haus erfüllten.

      Inmitten dieser totenähnlichen Stille stieß Mike in der sechsten Nacht seiner Arbeit auf eine alte, eisenbeschlagene Truhe, die lediglich von einem simplen, verrosteten Schloss gesichert wurde. Doch löste sich das Metall schnell unter seinen Händen in einer Wolke aus Rost und Staub auf.

      Was Mike im Innern dieser seltsamen Kiste vorfand, ließ ihn den Schrecken der Kälte und das unangetastete Schweigen in den Kellerräumen vergessen. Mit seinem Fund stieg er in dieser Nacht die steile Stiege in die gewärmte Wohnung empor, die ihm plötzlich von einer schweren Atmosphäre belastet erschien. Fast kam es ihm vor, als trüge er mit der Truhe und ihrem unheimlichen Inhalt auch die tiefe Stille und eine lange begrabene Vergangenheit hinauf in die Wohnstube.

      In dieser Nacht, in der Mike die alte Truhe entdecke hatte, träumte er zum ersten Mal von der Stadt …

      Ich wandelte durch düsteren, kargen Raum, ohne Richtung, ohne Ende, bewegte mich mechanisch in einem Körper, der nicht der meine sein konnte.

      Albtraumgleiche Furcht leitete mich hämisch durch das unwirtliche Dunkel, durch eine gespenstische Leere, wie sie selbst den schrecklichsten, gegenstandslosesten Fantasien uneigen war. Der Körper, der mich trug, so ich in der Lage war, jenen fremden Leib in dieser schauerlichen Welt zu spüren, fühlte sich heiß und pochend an, als würde er von verzehrendem Fieber heimgesucht. Dann wiederum kalt und schweigend, wie der verrottete Leib eines Toten.

      Mir kam der schreiende Gedanke, dass dies die untrüglichen Zeichen des Todes bedeuten konnte, der mich des Nachts im Schlaf ereilt hatte. Absolute, namenlose Einsamkeit über einem unendlichen Abgrund tiefster Schwärze. Hier konnte mein Geist auf nichts Lebendiges mehr stoßen. Hier, inmitten von Finsternis und richtungsloser Weite.

      Hatte ich endlich Gnade vor dem Richter und Dämon gefunden, der über unser aller Leben urteilt, und befand mich auf dem stillen Weg zu Olivia und meiner kleinen Tochter? Hatte ich endlich genügend Leid in dieser schrecklichen, lauten und dekadenten Welt erfahren, um schließlich auf die lange ersehnte Reise geschickt zu werden?

      Der Impuls, widerlich und verführerisch zugleich, erschreckte mich und ließ Raum und Zeit zu einem Nichts aus Sinnen, Gedanken und Ängsten verkommen. Fast schon war ich dazu bereit, mich der monströsen Dunkelheit des Todes hinzugeben und blind auf den Pfaden der Stille zu wandeln.

      War es nicht das, was ich mir immer erhofft hatte? Jene Visionen, zu denen mich der Alkohol verleitet und die ich in jenen ruinösen Nächten als die einzige Wahrheit anerkannt hatte?

      Schmerz und Leid waren fremd in diesem finsteren Schweben. Einzig der Gedanke an Erlösung und das totale Vergessen all jener Widerwärtigkeiten meines alten Lebens hielten meinen schweigsamen Verstand gefangen.

      Wo ich mich befand, war unwichtig. Selbst was womöglich im Dunkeln lauerte, schreckte mich nicht. Nach einem Leben in Pein gab es nichts mehr, das man als entsetzlich erachten konnte.

      Einzig der Weg zählte.

      Jener stille, schwarze Pfad, auf dem ich wandelte, und der mich durch diese Ebene des Todes leitete.

      Ich ließ mich treiben und labte mich am Vergessen.

      Dann tauchte Lichtschein wie ein entferntes, schwaches Pulsieren inmitten der Einförmigkeit auf. Das Licht, von welchem die Worte der vom Tode Wiedergekehrten berichteten?

      Das Licht der anderen Welt?

      Das Funkeln wurde stärker. Ich bewegte mich schneller als erwartet darauf zu.

      Die grabesähnliche, lauernde Nacht um mich herum wurde gebannt und in die Höhlen meiner ureigenen Ängste zurückgetrieben.

      Und dann, mit Augen, die mir fremd erschienen, und einem Verstand, der mich schwindeln ließ, sah ich sie zum ersten Mal.

      Die Stadt in der Dunkelheit.

      Ich blickte auf ein glänzendes, reflektierendes Meer heller Dächer und blendender weißer Fassaden herab. Auf ein Flechtwerk imposanter, gerader und leuchtender Straßenzüge.

      Alles schwamm in diesem unnatürlichen, verlockenden Schein goldenen Lichtes, der vom Mittelpunkt dieser Stadt auszugehen schien, einem monströsen Tempel, der auf der Spitze eines terrassengleichen Hügels thronte, umgeben von blühenden, farbenfrohen Blumenmeeren und unbekannten, uralten Bäumen, durchzogen von Straßen und Wegen, die sich bis hinunter zu den fürstlichen Bauten und glanzvollen Palästen wanden. Ich sah einen Fluss, der sich schimmernd wie Silber unter Brücken aus weißem Marmor schlängelte und von einem dampfenden Wasserfall über den Terrassen gespeist wurde.

      War das der Ort meiner Bestimmung? Der Ort, wo sich die Toten sammeln, um ihrer Erklärung zu harren? Wurde hier über den Menschen gerichtet?

      Doch wo waren sie, die Legionen der Geister und unglücklicher Seelen?

      Die Stadt lag verlassen und still vor mir, ein Elysium bar jeglicher Präsenz. Ein schweigendes, in Licht ertränktes, einsames Grab inmitten schier endloser Wüsten purer Finsternis.

      Nichts rührte sich … nichts regte sich …

      Die Stadt hätte ein Traum sein können, die Fantasie verzweifelter Gedanken, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnten.

      Etwas zog an mir …

      Ich wollte nicht fort. Mich verlangte nach dem Eintauchen in dieses unbeschreibliche, wundersame Meer fremder Existenz. Etwas drängte mich, die Straßen zu erkunden, die herrschaftlichen Häuser und den Weg zu ersteigen, hinauf zum majestätischen, gigantischen Tempel und die Kühle und Erhabenheit seiner hohen und verlassenen Hallen zu spüren.

      Doch der Schein wurde schwächer. Die Nacht raste in atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbei. Willenlos wurde ich von ihr aufgesogen, eingehüllt und höhnisch lachend begrüßt.

      Die kalten Klauen der Furcht und des Verlustes griffen nach mir und entrissen mir jegliche Erinnerung an jenen wundervollen Ausblick auf das Meer aus Licht und engelsgleichem Glanz.

      Als Mike im Zwielicht eines heraufziehenden, düsteren Morgens erwachte, waren die Bilder jener geheimnisumwitterten Stadt verschwunden. Lediglich das euphorische Gefühl von Ewigkeit brachte ungreifbare Fetzen seines Traumes an den Rand seiner Wahrnehmungskraft zurück.

      Doch die Stadt selbst … war verschwunden.

      Am Mittag nach jener denkwürdigen Nacht streifte Mike ruhelos und von seltsamen Gedanken und Empfindungen geplagt durch die hohen Räume des Hauses. Er brachte kaum genügend Energie und Konzentration auf, um sich auf die nötigen Arbeiten in den oberen Zimmern des Anwesens zu kümmern, von denen einige seit ungezählten Jahren scheinbar von keinem menschlichen Wesen mehr betreten worden waren. Vielmehr wurde Mike von einem abstrusen Gefühl gefangengehalten, das seine Gedanken in eine völlig andere, ihm unbekannte Richtung zog.

      Er sah verzerrte, nebulöse Bilder von grenzenloser Finsternis und hellem, gespenstischem Schein am Rande seiner Wahrnehmungskraft, ohne sie richtig greifen und verstehen zu können.

      Die Empfindungen wirkten düster und abschreckend, aber auf groteske Weise auch verlockend, als versuchte ihn irgendetwas nicht Erkennbares zu verführen.

      So setzte er sich am frühen Nachmittag dieses trüben und verregneten Tages in einen altertümlichen Sessel, den er in der ersten Nacht seiner Arbeiten in den Kellerverliesen