Michael Dissieux

Die Legende von Arc's Hill


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Tagebuches schien dieses Hoffen bereits im Ansatz ersticken zu wollen.

      Mike war in seinem bisherigen Leben – jenes, von dem er angenommen hatte, es in dieser Einöde mit Erfolg abgelegt zu haben – ein rational denkender Mensch gewesen.

      Er glaubte an die Thesen der Wissenschaft und Ergebnisse, die man mit Zahlen belegen und erklären konnte. Spekulationen oder gar übersinnliche Phänomene waren für ihn stets reine Zeitverschwendung gewesen und gehörten in die Welten von Phantasten und Träumern. Doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein mahnte Mike, sich in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich auf seinen Verstand zu verlassen. Eine kleine unangenehme Stimme, deren jämmerliches Aufbegehren er unmöglich ignorieren durfte.

      Konnte es denn wirklich sein, dass dieser Mann – der bisher letzte Bewohner dieses abgelegenen Anwesens, sofern Mike den Worten Delwrights Glauben schenken durfte – tatsächlich denselben Traum gehabt hatte, wie er ihm selbst in der letzten Nacht beschert worden war?

      Schenkte Mike, entgegen seiner Natur, jener qualvollen Stimme in den Tiefen seines Verstands Gehör, so hatten die Schritte des Mannes dieselben Straßen berührt, die er selbst in seinem Traum aus der Ferne als strahlende Bänder zwischen leuchtenden Häuserzeilen und herrschaftlichen Anwesen erblickt hatte. Die Arbeiten an dem großen Haus schienen Mike zu überanstrengen. Dazu die monotone Abgeschiedenheit des Anwesens von der Stadt. Er hatte in den letzten Tagen und Nächten viel getätigt, sowohl in den verstaubten und verwaisten Wohnräumen, als auch des Nachts in den Verliesen des Kellers. Hinzu fügte sich die psychische Belastung durch den Verlust seiner Familie, die scheinbar immer noch tiefer in ihm steckte und wütete, als er angenommen hatte. Zu dieser Bürde aus Einsamkeit und Schmerz gesellten sich nun noch jene befremdlichen Worte, die er in dem alten Tagebuch gefunden hatte.

      Das alles, so befand Mike, war zuviel für seinen geschundenen Seelenfrieden. Was er brauchte war etwas, das seine düsteren, überreizten Gedanken in ihre finsteren Höhlen zurückdrängte und ihm ein anderes Antlitz seiner neuen Heimat preisgab.

      So legte er das Buch und die Fotografien auf den kleinen Beistelltisch neben dem antiken Sessel und beschloss zum ersten Mal, seit er Arc´s Hill erreicht hatte, dem Ort einen Besuch abzustatten.

      Als er aufbrach, regnete es noch immer. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, und spannte den Regenschirm auf.

      Sofort begann ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, das seine Schritte über den schmalen, vom Regen aufgeweichten Fußpfad unter den tropfenden Weiden hindurch bis hinunter in das verschlafene Städtchen lenkte.

      Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, hatte er es bislang doch versäumt, den Ort genauer zu erkunden. Jedoch hatte er nicht vor, bei dem tristen, kalten Herbstregen länger als zwingend notwendig durch die engen und dunklen Gassen zu spazieren.

      Er begegnete nur sehr wenigen Menschen, die trotz des Regens unterwegs waren. Er grüßte alle, doch erhielt er weder eine Antwort noch einen Blick, der ihn als Fremden zeichnete.

      Vielmehr traf er auf mürrische, verschlossene Gesichter, die ihre Augen unter breitkrempigen, altmodischen Hüten oder tief gehaltenen Schirmen verbargen und eilends ihrer Wege gingen.

      Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren hingegen, das in einen vom Regen glänzenden Mantel gehüllt war, blieb vor ihm stehen und sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.

      Mike musterte das Kind, dessen Gesicht bleich und wächsern wirkte, und konnte sich eines eisigen Schauers nicht erwehren, der ihn augenblicklich gefangen hielt.

      Das Mädchen neigte den Kopf zu Seite, als betrachtete es etwas, das es nicht verstand. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen zeugte von Gleichgültigkeit.

      Mike suchte nach den richtigen Worten, um das Kind zu begrüßen, ohne es zu erschrecken. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, ging das Mädchen an ihm vorbei und verschwand mit langsamen Schritten im grauen Dunst des Regens.

      Mike sah ihm nach, wie es sich schattengleich von ihm entfernte, fast so, als sei es lediglich ein Gespenst seiner überreizten Phantasie gewesen.

      Mit Gedanken, die ihm nun noch verworrener anmuteten, schritt Mike weiter seines Weges durch enge Durchfahrten und finstere Gassen, in deren Pfützen sich der Regen silbern spiegelte. Die verfallenen Häuser zu beiden Seiten der steinernen Pfade erschienen ihm wie sterbende Riesen, die sich in ihrer Resignation gegeneinander lehnten und dem Ende harrten.

      Der Gestank von abgestandenem Wasser und Fäulnis hing schwer zwischen alten Backsteinmauern und den hohen Giebeln der verrotteten Häuser.

      Außer dem ständigen Prasseln des Regens lag eine fast greifbare Stille über dem Ort.

      Er erreichte einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Zierbrunnen aus kupfernen Pfannen und bleiernen Rohren stand.

      Um den Brunnen herum waren verschlungene Wege angelegt worden, die von braunem Laub bedeckt und durch niedrig geschnittene Hecken von der Straße getrennt waren. Mike konnte die schwarzen Schatten einiger Bänke erkennen, auf denen sich ebenfalls abgestorbene Blätter und dunkle Zweige häuften.

      Gegenüber des Brunnens erblickte er die matte Beleuchtung einer kleinen Taverne. Da der Regen seinen Mantel mittlerweile gut durchnässt hatte und ihm zunehmend kalt wurde, beschloss Mike, auf ein Glas in die Spelunke einzukehren.

      Vielleicht schaffte er es dort, in der Gesellschaft anderer Männer, seine trüben und zunehmend furchtsamen Gedanken zu vertreiben. Und wenn nicht dies, so doch zumindest soweit zu bannen, dass ihn diese unerklärliche Müdigkeit wieder aus ihrem eisigen Griff entließ.

      Doch als er an die Männer in der Taverne dachte, erschien das Mädchen wieder in seinen Gedanken. Der leere, unheimliche Ausdruck ihrer Augen ließ ihn erneut frösteln.

      Mit dem Gefühl, endlich wieder seit Tagen in Gesellschaft anderer Menschen zu gelangen, betrat er das kleine Gasthaus, das sich ihm auf einem alten, an eisernen Ketten im Wind schwankenden Schild über dem Eingang als ›Knights Head‹ offenbarte.

      Hegte er noch beim Anblick des windschiefen, alten Backsteinbaus Hoffnung auf menschliche Gesellschaft und vielleicht ein Gespräch, das seine wirren Gedanken zu verdrängen vermochte, so schlug diese Hoffnung beim Betreten des Gasthauses in pure Enttäuschung um. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und das helle Klingeln einer feinen Glocke über dem Türrahmen verstummt war, blickte er sich niedergeschlagen im dämmerigen Licht der Taverne um.

      Die Tische, die er nur als schwarze Schatten im diffusen Schein des schwindenden Tages erkannte, waren verwaist. Eine alte Musicbox am anderen Ende des Raumes war stumm und ausgeschaltet. Der Geruch von Zigaretten, abgestandenem Bier und gebratenem Speck hing in der Luft.

      Gerade als sich Mike nach seinem flüchtigen Blick durch den Schankraum wieder zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die tiefe, müde Stimme eines Mannes zurück, der hinter der Theke aus dunklem Holz stand und lustlos in einer zerknitterten Zeitung las. Mike hatte den Mann bislang nicht bemerkt.

      »Kommen Sie ruhig herein, Mister. Auch wenn es Ihnen nicht so erscheint, aber wir haben geöffnet.«

      Mike zögerte, erinnerte ihn die Erscheinung des Mannes hinter der Theke doch augenblicklich an jenes seltsame Mädchen aus der Gasse, obwohl er sich den Grund für diesen Vergleich nicht erklären konnte.

      Doch dann trat er näher, wohl auch, um nicht wieder in den Regen hinaus zu müssen. Er ließ sich schwer atmend auf einen abgenutzten Hocker an der Theke nieder und bestellte auf den fragenden Blick des Schankwartes hin ein Bier. Sein Mantel hinterließ einen Ring aus Wassertropfen rund um den Barhocker.

      Das ›Knights Head‹ war ein düsterer, niedriger Raum mit dunkel gebeizten Dachbalken und unbehandelten Stützpfeilern, die ebenso finster erschienen wie der übrige Raum. Hinter den kleinen Fensterscheiben konnte Mike das verschwommene Muster des Regens erkennen, doch er bezweifelte, dass der Schankraum des Gasthauses selbst bei hellem Sonnenschein viel freundlicher gewirkt hätte. Dennoch waren ihm dieser Ort und die Gesellschaft des grobschlächtigen, schweigsamen Wirtes im Augenblick lieber, als die trübe Stille seines Hauses jenseits der Trauerweiden.

      Der