auf die zerschlissenen hölzernen Armlehnen legte.
Während die Wärme des flackernden Feuers ihn in einen wohligen Mantel hüllte, hielt Mike die Augen geschlossen und versuchte vergeblich, jener fremdartigen, geflüsterten Stimme in seinem Kopf zu lauschen. Sein Bewusstsein reichte nicht so weit, etwas ergreifen zu können, das er nur im Traum erlebt hatte. In der trüben Wirklichkeit dieses verregneten Abends besaß sein Verstand weit weniger Fähigkeiten, zu fühlen und zu begreifen, als er es im Glanz jener betäubenden Stadt tat. Und doch konnte sich Mike eines Gedankens nicht erwehren, der ihn, wenn auch unbewusst, beschäftigte, seit er jenes Paradies des Traumes verlassen hatte.
Es war mehr ein Gefühl, als ein greifbarer und realer Gedanke, doch glaubte Mike, sich zu erinnern, das Flüstern jenes mystischen Wesens auch noch nach seinem Erwachen vernommen zu haben. Nicht etwa als letzter Fetzen eines Traumes, der seinem Begreifen entglitt, sondern als eine reale Empfindung, die ihn seither an seinem Verstand zweifeln ließ.
Die Tatsache, dass sich in dieser schattengleichen Vorstellung das sirenengleiche Flüstern der Gestalt in ein tiefes, donnerndes Grollen verwandelt hatte, tat sein Übriges, Mike in einer Unruhe zurückzulassen, die ihn frösteln ließ. Er hatte das trügerische Gefühl, dass jenes profane Flüstern, das jetzt mehr dem Knurren eines Ungetüms glich, direkt aus der Erde gekommen war …
Nachdem sich Mike in der altmodischen Küche mit dem gusseisernen Ofen etwas zu Essen bereitet hatte, nahm er, entgegen seinem eigentlichen Willen, das alte Tagebuch zur Hand, von dem er nun wusste, dass es ein Mann namens Charles Ward vor rund zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte.
Er begann mit einer verstörenden Mischung aus kindlicher Neugierde und furchtsamen Grauen den nächsten Eintrag des letzten Bewohners des Grady-Anwesens zu studieren. Auf dem Tisch neben dem Sessel stand ein weiteres Glas Whiskey. Vor den Fenstern hatte mittlerweile die Nacht ihren Einzug gehalten. Vielleicht traf er in dem Buch auf etwas, das die Barriere zwischen der Traumwelt und seiner scheußlichen, grauen Realität zumindest in seinen Grundfesten zu erschüttern vermochte …
09. Februar 1966
In der letzten Nacht war ich zum Tempel hinaufgegangen. Der Aufstieg war lang und beschwerlich, da sich der kiesbestreute Weg serpentinenartig um den gigantischen Hügel schlängelte. Doch spürt man im Traum weder Schmerz noch Erschöpfung.
Der Anblick der heiligen Anlage auf dem Berg war beeindruckend und fürchterlich zugleich. Nie zuvor, weder im Traum noch im wachen Zustand, hatte ich ein Bauwerk von derart erhabener Gesinnung bestaunen dürfen. Und doch haftete den strahlenden Mauern etwas Bedrohliches an. Ich kann nicht beschreiben, was mich zu dieser Vermutung veranlasste, handelte es sich doch ausschließlich um einen Traum, wie ich mir immer noch einzureden versuche. Doch fühlte ich selbst in diesem schlafenden Zustand eine kalte Faust der Beklemmung, die mich eisern gepackt hielt, während ich den Koloss aus Stein, Kupfer und Gold betrachtete.
Das Innere des Tempels, jene erste Halle, die ich betrat, als ich durch das gigantische Portal ging, glich einer Symphonie aus Weite, Größe und schier unendlicher Glorie, die ich hier mit meinen simplen Worten kaum zu erfassen vermag. Ich hatte das atemberaubende Gefühl, das Tor zu einer anderen, fremdartigen Dimension durchbrochen zu haben. Vielleicht trat ich aber auch einfach nur von einem Traum in den nächsten. Die Halle – falls man sie überhaupt als solche bezeichnen durfte – schien keine physischen Grenzen zu besitzen. Weder in der Länge, noch in der Höhe. Es war eine kunstvolle Ansammlung von Säulen und Torbögen, allesamt verziert mit unbekannten Hieroglyphen und fremdartiger Fresken. Sie muteten als die überwältigenden Arbeiten fremder Kunstschöpfer an, die man sich nur schwer vorzustellen vermag.
Und inmitten dieser hohen, kalten ersten Halle des Tempels bin ich auf dieses Wesen gestoßen. Seltsamerweise erschrak ich nicht, fand ich die Stadt doch bislang verlassen und schweigend vor. Ich kann hier nicht niederschreiben, um welche Art von Wesen es sich handelte. Nicht einmal weiß ich, ob es irdischen Ursprungs war, denn ich kann es nur als schwarzen Schatten inmitten des hellen Scheins der Tempelanlage beschreiben.
Es stand einfach da, eine nebulöse Silhouette, deren Konturen immer wieder zu verschwimmen schienen. Ich hatte das unheimliche Gefühl, als würde ich durch den Schatten hindurch in eine alte, lange vergessene Zeit blicken können.
Das mag an dieser Stelle nun merkwürdig und ohne Sinn anmuten und davon zeugen, dass ich im Begriff bin, den Verstand zu verlieren. Doch war dies genau die Empfindung, die ich in meinem Traum verspürt hatte. Ebenso wurde ich von dem naiv zu nennenden Bewusstsein überwältigt, dass ich einer der wenigen Menschen war, denen die Ehre zuteilgeworden war, einen Blick – wenn auch nur im Traume – auf dieses von Licht durchflutete, herrliche Geschöpf werfen zu dürfen.
Als ich mein Wort an jenes gesichtslose Wesen richten wollte, endete mein Traum abrupt und ich wachte in kalten Schweiß gebadet in meinem eigenen Zimmer auf. So ungern ich es auch zugeben mag, so hoffe ich doch, in der nächsten Nacht erneut zu der fremden Stadt reisen zu können und dem sonderbaren Wesen zu begegnen.
Mike lehnte sich im Sessel zurück und ließ das Buch in den Schoß sinken. Er versuchte die Worte von Charles Ward auf sich wirken zu lassen. Doch ihre Bedeutung fand nur schwerlich Zugang zu seinem ausgemergelten Verstand.
Konnte es denn tatsächlich möglich sein, dass ein Mann zwanzig Jahre bevor Mike von jener seltsamen Stadt geträumt hatte, von demselben Traum heimgesucht worden war?
Mit welchen wissenschaftlichen Maßstäben konnte ein derartiger Zufall begründet werden?
Mike starrte zur Decke und lauschte dem flüsternden Knacken des Kaminfeuers. So sehr er sich auch zu konzentrieren versuchte und bereit war, seinen Verstand für eine Welt zu öffnen, die mit rationalen Worten kaum zu erklären war, es wollte ihm einfach nicht gelingen, eine Verbindung zwischen Wards Aufzeichnungen und seinen eigenen Erlebnissen zu knüpfen.
Dieses Haus, selbst der ganze düstere Landstrich, schienen eine eigene verworrene und in den Grundfesten der Realität erschütterte Welt zu beherbergen, deren Erfassung für einen schlichten menschlichen Verstand nicht geeignet schien.
Mike war versucht, diese unwirkliche Gegend als das anzuerkennen, wie man sie in den seit Generationen gewobenen Geschichten und uralten Legenden darstellte. Doch war da immer noch ein letzter Funke seines sachlich arbeitenden Verstandes, der sich weigerte, das gelesene Wort des alten Buches, ebenso die absonderlichen Worte des Schankwirtes, in den Reigen „fantastisch zu erklärender Dinge“ einzuordnen.
Vielmehr befriedigte sich Mike damit, seine derzeitige Verfassung mit der fast unmenschlich zu nennenden Überbeanspruchung seines Denkens seit dem Tode von Olivia und Susan zu beschreiben.
Männer, die stärker waren als er, hätten in seiner Situation längst den Verstand verloren und sich den süßen Verführungen des Todes ergeben, so mutmaßte er. Warum also sollte es ein schändliches Verhalten sein, sich von den düsteren Mythen dieser Gegend in die Knie zwingen zu lassen, sofern die Seele ohnehin einen unheilbaren Bruch erlitten hatte?
Er nahm das Buch wieder zur Hand und ließ seinen Blick sehnsüchtig zum im Feuerschein glitzernden Whiskey wandern, als ihn eine Bewegung im Augenwinkel aufschrecken ließ.
In Anbetracht der Tatsache, dass er sich als das einzige menschliche Wesen in dem großen Anwesen wähnte und die schaurige Geschichte, auf die er in den wenigen Tagen gestoßen war, einen nachhaltigen Eindruck in seinen Gedanken hinterlassen hatte, erschreckte ihn diese schlichte Bewegung mehr, als er sich eingestehen wollte.
Mike drehte sich zu einem der Fenster um, hinter dem er den Hauch einer Erschütterung zu sehen geglaubt hatte. Er schalt sich einen Narren, dass er es dem Alkohol erneut erlaubt hatte, seine Sinne in jene tiefen Tümpel der Täuschung zu tauchen, wie es ihm in seiner kleinen Wohnung in London nur zu oft widerfahren war. Doch im nächsten Augenblick verflog die einschläfernde Wirkung des Whiskeys und seine Gedanken tauchten aus einem See eiskalten Wassers auf, geschärft und wachsam.