Michael Dissieux

Die Legende von Arc's Hill


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      Mike blätterte das alte Buch noch einmal mit fahrigen Bewegungen durch, suchte nach Einträgen, die seinem fast schon berauscht zu nennenden Verstand entgangen sein mochten. Doch er fand keine weiteren Erläuterungen oder Hinweise auf die merkwürdigen Träume Wards – oder gar auf seine eigenen – oder auf den mystischen Baumkreis und seine unheilschwangere Bedeutung.

      Sofern Ward tatsächlich in seinen Aufzeichnungen näher auf diesen fremdartigen Ort eingegangen war, so musste er dies auf jenen Seiten getan haben, die er in seinem offensichtlichen Wahn aus dem Buch herausgerissen hatte.

      Frustriert und zutiefst verstört warf Mike das Tagebuch auf den Tisch, wo es über die glatte Oberfläche rutschte und mit einem dumpfen Knall zu Boden fiel. Fast augenblicklich spürte er einen stechenden Schmerz hinter seiner Stirn und zwischen den Schläfen. Eine Nachwirkung des seltsamen Traumes, dessen Opfer er geworden war? Oder hatte sich sein Verstand derart auf Wards Geschriebenes konzentriert, dass es ihm plötzlich an klarem Denken mangelte?

      Vor seinen übermüdeten Augen tauchten immer wieder die letzten Worte des Buches auf. Insbesondere die Fragmente, die von zitternder Hand niedergeschrieben waren. Sie übten eine unheimliche, fast grotesk zu nennende Anziehungskraft auf Mike aus. Doch Ward hatte – offensichtlich aus gutem Grund – alles Erdenkliche dafür getan, um dem eventuellen Leser seiner unheiligen Hinterlassenschaft nicht den vollen Schrecken seiner Erlebnisse zukommen zu lassen. Wen hatte er mit seinen Handlungen, jene Seiten aus dem Buch zu entfernen, schützen wollen? Wirklich denjenigen, den irgendwann einmal das Unglück ereilen sollte, das Buch in Händen zu halten? Oder versuchte er seinen eigenen Verstand zu schützen, indem er die Tatsachen seiner Erlebnisse kurzerhand vernichtete?

      Es verlangte Mike danach, die fieberhaft niedergeschriebenen Worte erneut zu lesen. Vielleicht etwas Neues zu entdecken, so einfältig dieser Wunsch auch klingen mochte. Er wollte Wards Worte noch einmal fühlen, ertasten, riechen. Wollte ihnen das ungesagte Geheimnis entlocken, das Charles Ward in seinem Irrsinn vor zwanzig Jahren mit in sein tiefes Grab genommen hatte.

      Er erinnerte sich der Worte des Schankwirtes, der, war man wirklich so töricht und schenkte dem seltsamen Mann Glauben, dabei gewesen war, als man Ward in jener schicksalsschwangeren Nacht auf dem Marktplatz von Arc´s Hill aufgefunden hatte.

      Seine Augen hätten in irrem Fieber gebrannt, so lauteten die Worte des Schankwirtes. Und er hatte den Männern, die damals zugegen gewesen waren, in wirren Ausführungen anvertraut, was er seiner Familie angetan hatte.

      Was war es gewesen, das einen ehrbaren Menschen dazu verleiten konnte, seine geliebte Frau und kleinen Töchter in ihren Betten zu meucheln? Aus welcher Veranlassung heraus hatte Ward offensichtlich den Verstand verloren und war, beseelt von fiebrigem Wahn, zum Marktplatz des Ortes gelaufen, seine unfassbare Tat zu beichten? Fort vom alten Grady-Anwesen …

      Die Antwort musste auf den herausgerissenen Seiten seines Tagebuch zu finden sein. Doch rechnete Mike trotz seines Begehrens nicht damit, jene mysteriösen Seiten jemals irgendwo in den dunklen Eingeweiden des alten Hauses vorzufinden. Viel wahrscheinlicher mutete an, dass Ward mit dem letzten Funken Verstand, der ihn noch aufrecht gehalten hatte, diese Seiten vollends vernichtete, ehe er dazu überging, seine Familie aus dem Leben auszulöschen.

      Mike musste mehr über jene Geschichte erfahren. Und noch ehe er sich zur Nachtruhe begeben und im Traum abermals in die seltsame Stadt reisen würde, gedachte er noch einmal das ›Knights Head‹ aufzusuchen. Zwar war der Schankwirt ein mürrischer und wortkarger Zeitgenosse, doch er war der einzige Mensch, den er bisher in Arc´s Hill kennengelernt hatte. Zudem war er einer jener Männer gewesen, die anwesend waren, als man Ward wahnsinnig auffand. So machte sich Mike an diesem späten Abend noch einmal auf den Weg in den Ort, in der Hoffnung, die kleine Taverne offen vorzufinden.

      Er hatte keine Mühe, den kleinen Platz mit seinem Zierbrunnen in dem Labyrinth aus engen Straßen und finsteren Gassen wiederzufinden. Jetzt, in Anbetracht der befremdlichen Geschichte, die ihm Wards Tagebuch anvertraut hatte, erschien ihm die unheimliche Stille des Ortes noch erdrückender und die Nachtluft wie der Atem einer kalten Hölle. Lediglich das leise Flüstern des Regens auf Asphalt und Kieswegen begleitete ihn. Büsche und Bäume schienen Mike verzweifelte Worte zuzuwispern, wenn der Regen sich seinen Weg durch Geäst und Blattwerk suchte.

      Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Beleuchtung des ›Knights Head‹ eingeschaltet. Ein mattes Licht erhellte den Gehweg vor der Taverne und ließ den Regen in den Pfützen funkeln. Neben der Tür, in einem der kleinen Fenster, hing ein von Hand geschriebenes Schild, das Mike verriet, dass das Gasthaus noch geöffnet war. Als er den niedrigen, vom gelben Schein einiger altertümlicher Lampen erhellten Schankraum des Hauses betrat, stand der Wirt hinter der Theke, die Arme weit ausgebreitet auf der wurmstichigen Holzplatte abgestützt, gerade so, als hätte der Mann Mikes Ankunft in dieser Nacht erwartet. Er trug seinen albernen, grauen Hut, wie am Tage, an dem Mike die Bekanntschaft des Mannes gemacht hatte. Er grüßte den massigen Mann, und als dieser ihm knapp zunickte, setzte sich Mike ihm gegenüber auf denselben Hocker, auf dem er bei seinem letzten Besuch gesessen hatte. Wie zuvor waren sie alleine in der Taverne, was ihm sein Vorhaben erleichterte.

      »Wie kommen Sie voran?«, fragte der Wirt mit teilnahmsloser Stimme und maß Mike mit prüfendem, fast abschätzendem Blick. Mike konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann den ganzen Abend auf ihn gewartet hatte.

      »Ist sicher ein hartes Stück Arbeit, das alte Haus wieder herzurichten.«

      Mike nickte wortlos und bestellte dann etwas zu trinken. Er fühlte eine innere Niedergeschlagenheit ob der Tatsache, dass er es nicht schaffte, seine verworrenen Gedanken in Worte zu fassen, ohne die Hitze des Alkohols in seinem Leib zu spüren. Hatte London ihn wirklich derart tief in den Strudel der Abhängigkeit gezogen? Während der Schankwirt ihm den Rücken zuwandte, um eine Flasche aus dem mit einem trüben Spiegel verzierten Regal zu holen, beschloss Mike, direkt und ohne Umschweife auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu einer derart späten Stunde zu sprechen zu kommen. Er verspürte nicht die geringste Lust, mit dem Mann über banale Dinge zu reden, während in seinem Kopf Wards letzte niedergeschriebene Worte wie ein entferntes Donnergrollen nachhallten. Zudem glaubte er im argwöhnischen Blick des Mannes etwas gelesen zu haben – ein leichtes, nervöses Aufblitzen – das ihn geradezu dazu aufforderte, das Gespräch auf seine Erlebnisse hinzuführen.

      Als ihm sein Gastgeber ein Glas mit verlockend goldenem Whiskey vorgesetzt hatte, blieb er abwartend vor Mike stehen, als wollte er durch seine Geste dessen düstere Gedankengänge unterstreichen. Mike nahm einen gierigen Schluck und spürte augenblicklich die beißende, wohlvertraute Hitze in seiner Kehle, die ihn jedoch entgegen aller Erwartung diesmal nicht zu beruhigen vermochte.

      »Wussten Sie, dass Charles Ward ein Tagebuch geführt hatte?«

      Der Wirt bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Überraschung ausdrückte, schwieg jedoch.

      »Er schreibt darin von Träumen, die ihn in den Nächten heimgesucht hätten.«

      Mike erwartete eine Reaktion. Doch der Blick seines Gegenübers blieb weiterhin gelassen, auch wenn Mike glaubte, eine tiefe, versteckte Unruhe in den Augen des Mannes erkennen zu können. Offensichtlich erzählte er dem Schankwirt nichts, was dieser nicht bereits wusste. Er beschloss, nicht mehr länger mit seinen Erlebnissen hinter dem Berg zu halten.

      »Ward erwähnte in seinen Aufzeichnungen einen Ort in den Bergen, an dem es einen altertümlichen Baumkreis geben soll. Haben Sie davon schon einmal etwas gehört?«

      Er vermied es, die archaische Bedeutung des Kreises zu erwähnen.

      Plötzlich kam Regung in das Gesicht des grobschlächtigen Mannes. Seine Augen weiteten sich und ein Anflug von Entsetzen stahl sich in seinen Blick. Seine Hände, mit denen er sich immer noch auf der alten Theke abstützte, verkrampften sich zu Fäusten, deren Knöchel weiß hervortraten.

      Dies alles offenbarte sich Mike binnen einer einzigen Sekunde. Dann gewann der Mann seine vorherige Beherrschung zurück. Er betrachtete Mike lange Zeit