Michael Dissieux

Die Legende von Arc's Hill


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einer Menschenseele fern von Arc´s Hill anvertraut, hätte dieser Umstand genügt, um ihn vor seinen Mitmenschen auf ewig als vom Irrsinn gezeichnet wegzusperren. Da waren Charles Wards letzte Worte in diesem skurrilen Tagebuch, das immer noch auf dem Boden in der Wohnstube lag. Mike hatte bisher dem schreienden Drang widerstehen können, es aufzuheben und noch einmal nach entgangenen Textpassagen durchzusehen. Und es gab die düsteren Worte des Schankwirtes, die sich wie die sengenden Peitschenhiebe des Jüngsten Gerichts in seine Gedanken eingebrannt hatten. Welchen Glauben konnte er diesem seltsamen Mann schenken, der sich zeit seines Lebens den dunklen Legenden dieses Landstriches ausgesetzt sah und mit den Ammenmärchen seiner Vorfahren großgezogen worden war? Und wie sehr waren die düsteren Erzählungen des Wirtes, die alten Legenden dieses Ortes betreffend, mit der Wahrheit in Verbindung zu bringen? Mike dachte an das kleine Mädchen, das er am späten Abend am Fenster gesehen hatte.

      Emma schien ihr Name, spielten ihm seine Sinne nicht einen schrecklichen Streich.

      Emma … so lautete auch der Name einer der Töchter von Charles Ward.

      Mike spürte mit jeder Sekunde, in der er in der schweigenden Dunkelheit verharrte, dass sich sein Verstand einer tiefen Kluft näherte, deren Ende er nicht abschätzen konnte und die ihn unweigerlich mit ihren Verhöhnungen und Verlockungen aus der Tiefe nach endgültiger Stille anzuziehen schien. Er betrachtete mit lethargischer Gleichgültigkeit die bizarren Formen der Nacht, die sich ihm zwischen den hohen Weiden am Rande des Pfades zu seinem Haus darboten.

      Irgendwo da draußen, in dieser schrecklichen Dunkelheit, verbarg sich jener unheimliche und legendenträchtige Ort, von dem Ward geschrieben und der das blanke Entsetzen in die Augen des Wirtes getrieben hatte.

      Ward hatte davon berichtet, wie er die beschwörenden Worte jenes geisterhaften Wesens aus der Traumstadt innerhalb dieses Steinernen Baumkreises gesprochen hatte. Und auch davon, wie seinen Worten aus der Tiefe des Erdreiches geantwortet wurde.

      Der Schankwirt des ›Knights Head‹ glaubte, dass dort oben in den dunklen Bergen der Leibhaftige seine Brutstätte besaß. Mike konnte nicht verhehlen, dass es ihn danach verlangte, sich im Schlaf erneut auf den Weg zu jener mystischen, abnormen Stadt zu begeben.

      Doch befürchtete er, dass er nach all den Aufregungen des Tages nicht dazu in der Lage war, den ersehnten Schlaf zu finden. Ebenso wenig verlangte es ihn danach, den Rest der Nacht in dem ledernen Sessel zu verbringen und in die versteinerte Dunkelheit zu starren.

      So ging er zu Bett, als ihm die Uhr die dritte Stunde des neuen Tages verkündete. Sagte man nicht, dass dies die Stunde der Dämonen sei?

      Noch ehe sich Mike dem quälenden Gedanken hingeben konnte, auf welche Weise er sein Herz zu beruhigen und den erhofften Schlaf zu finden vermochte, als der Alkohol des Tages seinen Tribut forderte und er sich auch schon auf dem Weg durch endloses Dunkel in die in seinem tiefsten Unterbewusstsein verborgene Stadt befand.

      Jene Stadt, die er – dank Charles Ward – als Re´grith Dath kannte …

      In dieser Nacht blieb mir der Aufstieg zur Tempelanlage erspart. Als ich die Augen öffnete und mich die träge Dunkelheit meines Schlafes entließ, stand ich vor dem offenen Portal des Tempels, aus dessen Halle ein kalter Wind zu mir wehte. Ich spürte den eisigen Hauch schlanker, verlangender Finger auf meiner Haut, bezweifelte jedoch, dass dieses Gefühl der Beklemmung, das mich augenblicklich fest umschlungen hielt, von der Kälte herrührte, die auf dem obersten Felsplateau herrschte.

      Zögernd betrat ich den ausladenden Saal, der sich mir zunächst in bleierner Nacht präsentierte, bis sich meine Augen an den Übergang vom Glanz der Stadt zum düsteren Innern des Tempels gewöhnt hatten. Nach und nach schälten sich die mächtigen Säulen und Fresken aus dem Dämmerlicht, dann die gigantischen Torbögen und Pilaster, die sie trugen. Und inmitten all jener Herrlichkeit stand die in einen Kranz aus gleißendem Licht gebettete, konturenlose Gestalt, die mich bereits in der Nacht zuvor erwartet hatte.

      Ehrfurchtsvoll verharrte ich in meinem Schritt. Eine beklemmende Stille breitete sich trotz der Weite der Tempelhalle aus.

      Ich spürte, wie sich jede Faser meines Körpers anspannte, und fragte mich zum wiederholten Male, ob es überhaupt möglich war, derartigen Realismus innerhalb eines Traumes zu empfinden. Mein Denken blendete alles aus, was um mich herum geschah. Der monströse Eingang des Tempels, die kunstvoll verzierten Arabesken der Säulen, die unheimliche Kälte der Halle … das alles verschwand in einem stillen Nebel. Es gab nur noch mich, meinen Atem, meinen Herzschlag und das schemenhafte Wesen, das reglos in der Mitte all dieser Nebelspiralen und Traumgebilde verharrte und mich anstarrte.

      Ich dachte daran, mein Wort an die Gestalt zu richten, so wie es Ward versucht hatte, ehe er aus seinem Traum gerissen wurde. Doch war ich unfähig, Worte zu bilden, die mir in der Situation als angemessen erschienen. Ich hatte das absurde Gefühl, als hätte sich etwas Fremdes meiner Gedanken bemächtigt, um mich zu kontrollieren. Das Gefühl war abstoßend und erschreckend, aber auch berauschend, auf eine primitive und widerstandslose Weise.

      Und dann – ich wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit ich den Tempel zum zweiten Male betreten hatte – hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die voller und eindringlicher war als alles, was ich bisher in meinem Leben empfunden hatte. Ich erkannte die unvorstellbare, uralte Macht, die dieser Stimme innewohnte. Eine Stimme, die es gewohnt war, zu herrschen. Die führte, und der man nachgiebig folgte.

      Doch spürte ich auch die verheerende Verführung, mit der die melodische Stimme meinen Verstand packte und ihn zu seinen Gunsten formte.

      Willenlos ließ ich es geschehen und lauschte den Worten wie der großartigsten Melodie, die jemals in meiner Welt von Menschenhand geschrieben worden war. Losgelöst vom eigenen Willen vernahm ich die Worte, die zu hören bereits Charles Ward die Ehre hatte.

      »Du bist auserwählt«, dröhnte die Stimme wie ein ganzer Chor in meinen Gedanken. Es schienen Tausende zu sein. »Nur wenigen wird jemals diese Ehre zuteil. Nur besondere Geister besitzen die Gabe, den Worten unserer Welt Gehör zu schenken.«

      Die Gestalt schien näher zu kommen, an Größe zu gewinnen. Und doch verringerte sich ihr Abstand nicht. Ich spürte, wie mir die Sinne schwanden, doch etwas – oder jemand – hielt meinen Verstand mit eisernem Griff aufrecht.

      »Du hast den Weg in meine Stadt gefunden. Du hast die Straßen berührt und die verborgenen Gärten in ihrer blühenden Pracht betreten. Und du hast den Weg zum Tempel meines Herrn gefunden und zu mir, Nad´naruhl, der da einst Wächter über diese Stadt gewesen, die dich in ihrer Schönheit und Eleganz berührt hat.«

      Ein schwaches Echo folgte jedem Wort, das die Gestalt sagte. Es war ein monotones Auf- und Abschwellen, eine Symphonie purer Verlockung und tiefster Versprechen.

      »Die Stadt, die du nur des Nachts finden kannst, nennt sich Re´grith Dath. Es ist die Heimstätte der Ältesten, die lange vor euch Menschen und allem Lebendigem auf Erden wandelten. Re´grith Dath ist älter als alles, was du dir in deinem begrenzten menschlichen Verstand vorzustellen vermagst. Einst, in Zeiten, die selbst in den ältesten Legenden in die Nebel der Vergessenheit geraten sind, waren die hellen Straßen erfüllt mit Leben und Lachen. In den Gärten der Paläste hatten die Jüngsten gespielt, und der Duft von Blumen und grünen Bäumen hatte wie ein süßer Hauch über den Dächern der prunkvollen Häuser gehangen und die Lüfte erblühen lassen. Ein jeder hatte in Frieden mit seinem nächsten gelebt, es gab keinen Neid und keine Missgunst, und jedes Paar Augen, in das man blickte, waren die Augen eines Vertrauten. In einer Schrift, die man in deiner schlichten Welt anbetet, wird von einem Ort namens Eden erzählt. Doch dieser Ort, den es nur in eurer schlichten Fantasie gibt – denn zu mehr gereicht die Fähigkeit Eures Geschlechtes nicht – reicht an Würde und Herrlichkeit nicht heran an Re´grith Dath. Hier gab es keinen Hass, keinen Krieg und keinen Tod.

      Doch gebietet alles Gute dem Bösen aufzuerstehen. Und so kamen Herrscher von weit jenseits der Dunkelheit und brachen über die Stadt herein. Sie verfinsterten das Leuchten des Himmels und brachten das Lachen in den Gärten zum schweigen und