eigenen, fahlen Spiegelbildes erkannte Mike das Abbild eines kleinen Mädchens.
Er stand auf, schloss das Buch und legte es auf den kleinen Tisch neben dem Sessel. Er rechnete damit, dass das Kind, nachdem es entdeckt worden war, verschwinden und zurück in den Ort laufen würde, wo es zweifelsohne herstammte. Vielleicht war er nur Opfer einer makabren Mutprobe unter den Kindern des Ortes geworden. Aber das Mädchen stand unbeweglich in der Nacht vor dem Haus und starrte zu ihm ins Zimmer.
Mike versuchte in stiller Verzweiflung erneut dem Alkohol die Schuld an seinen Trugschlüssen zu geben. Doch ebenso schnell wurde ihm bewusst, dass er sich im Moment mit einer merkwürdigen und unheimlichen Realität konfrontiert sah. Er ging langsam auf das Mädchen zu, wobei er sich bemühte, seine Nervosität nicht zu zeigen.
Als er sich ihm näherte und sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe nach und nach verblasste, erkannte Mike mit leichtem Schaudern jenes Mädchen, das ihm in den Gassen von Arc´s Hill schon einmal begegnet war. Sie trug denselben dunklen Regenmantel, der vom Wasser glänzte. Die langen Haare waren nass, und ihr bleiches Gesicht wirkte ebenso wächsern und ausdruckslos wie bei ihrer ersten Begegnung.
Er zögerte. Dann öffnete er das Fenster und erschrak ob der Kälte, die ins Haus strömte. Das Mädchen wich keinen Schritt zurück. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen beobachteten Mike.
»Was tust du bei diesem Wetter hier draußen?«, fragte Mike und versuchte seiner Stimme einen versöhnlichen, jedoch strengen Klang zu verleihen. Stattdessen erschienen ihm seine eigenen Worte eher einem heiseren Flüstern gleich, das seinen Schrecken nicht verbergen konnte.
Das Mädchen legte den Kopf zur Seite und entließ ihn nicht aus seinem Blick. Fast erschien es Mike, als versuchte das Kind das Wesen seines Gegenübers zu ergründen.
»Wir haben uns schon einmal gesehen«, fuhr Mike fort. »Erinnerst du dich? Es war im Dorf, heute Nachmittag.«
Mike versuchte ein Lächeln, das jedoch nicht erwidert wurde. Er wusste nicht, was er mit dem Kind anfangen sollte. Irgendjemand im Ort würde sich bereits Sorgen machen, immerhin war es fast Nacht und ein eisiger Wind wehte um das alte Haus.
»Du solltest nach Hause gehen«, setzte Mike an. »Das ist kein Ort für ein kleines Mädchen wie dich. Außerdem solltest du schon lange in deinem Bett liegen und schlafen.«
Profane Worte, doch Mike fühlte sich plötzlich wie ein Gefangener. Er hatte in London nie lernen müssen, mit einer derartigen Situation umzugehen. Der Blick des Mädchens wanderte an ihm vorbei ins Innere des Hauses, als suchte es nach etwas Bestimmten. Das Gesicht jedoch blieb ausdruckslos. Als sich die dunklen Augen wieder auf ihn richteten, verzogen sich die schmalen Lippen zu einer traurigen Grimasse.
»Sie sollten auch nicht hier sein«, sagte das Mädchen mit monotoner Stimme. »In dem Haus werden böse Träume geboren.«
Mike betrachtete das Kind, das ihn unverwandt anstarrte. Er suchte in dem kleinen, hübschen Gesicht nach einer kindlichen List oder dem Vergnügen eines unausgereiften Verstandes, ihn durch Worte zu erschrecken. Doch immer noch wirkte das Antlitz wie eine bleiche Maske, ohne jegliche Regung, sah man einmal von der tiefen Trauer ab, die sich in das unschuldige Gesicht gegraben hatte.
»Was redest du da?«, fragte Mike und suchte die nähere Umgebung nach anderen Kindern ab, die sich einen Spaß daraus machten, dem Fremden in ihrem Dorf einen Streich zu spielen.
Doch das Mädchen schien alleine. Es stand inmitten eines verwilderten Blumenbeetes, das vor dem Fenster lag, trug seinen dunklen Regenmantel und ebenso dunkle Schuhe, die im aufgeweichten Erdboden versanken und schmutzig waren.
Ihr Haar hing in nassen Strähnen ins Gesicht.
»Sie dürfen nicht träumen«, fuhr das Kind fort, ohne Mike aus ihrem Blick zu entlassen. »Er versucht Sie zu täuschen. So, wie Er es bei meinem Vater getan hat.«
Mike spürte trotz seines Unbehagens, wie das Kind seine Geduld überstrapazierte. Er wusste nicht, was er tun sollte, kannte er doch außer dem Schankwirt niemanden im Ort.
»Was ist mit deinem Vater?«, griff er die Worte des Mädchens auf. »Er wird sich Sorgen machen und bereits auf der Suche nach dir sein. Geh nach Hause.«
Zum ersten Mal kam etwas Regung in das Kind. Langsam schüttelte es den Kopf.
»Mein Vater hat mich zu Ihnen geschickt. Ich soll Sie warnen.«
»Wovor?«
Das wächserne Gesicht blickte starr und ernst.
»Vor den Träumen. Vor den Verführungen. Vor … Ihm.«
Mike setzte ein gequältes Lächeln auf und legte seine Hände auf die Fensterflügel, als beabsichtigte er, jene zu schließen. Ein kalter Schauer fuhr durch seinen Körper, der jedoch nicht von der Nacht herrührte.
»Geh nach Hause, Kleines …«, begann er, doch das Mädchen schnitt ihm das Wort ab.
»Er versucht, Sie zu verführen und lässt Sie sehen, was Er will, dass Sie es sehen. Aber die Wahrheit ist eine andere. Sie sehen nur Seine Maske.«
»Von wem redest du? Wer bist du?«
»Er ist ein Dämon. Der Wächter. Er bewacht die Pforte zur Gruft.«
Mike fuhr sich mit Händen, die von der Nachtluft kalt geworden waren, über die Augen. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich hinter seinen Lidern eingenistet, doch sein Herz schlug hart in der Brust.
»Hör zu«, setzte er an, doch da trat das Mädchen langsam vom Fenster zurück.
»Lassen Sie nicht zu, dass Er sie täuscht. Er will die Pforte öffnen und IHN erwecken, dass er aus der Erde steigen kann.«
»Was redest du da?«
Das Mädchen zog sich in die Dunkelheit zurück.
Ihr Mantel war kaum noch zu erkennen.
Nur ihr kleines Gesicht glich einem verblassenden, aschfahlen Mond.
»Warte.«
»Träumen Sie nicht. Denn Sie sehen nicht Seine wahre Gestalt.«
Das Mädchen verschwand. Ihr Gesicht nur noch ein bleiches Oval in der Finsternis.
»Wer bist du?«
Mike starrte in die Nacht hinaus, lehnte sich weit aus dem Fenster. Die Kälte ergriff ihn mit erbarmungslosen Fingern, seine Augen begannen zu tränen.
Das Mädchen war verschwunden.
Doch dann glaubte er im kalten Flüstern des Nachtwindes ganz leise ihre Stimme zu vernehmen.
»… Emma …«
Er stand noch lange am Fenster und starrte in die schwarze Wand der Nacht hinaus.
Die grauen Schatten der Bäume und Sträucher waren kaum zu erkennen. Die Kälte der nahen Berge fuhr ihm unter die Kleidung und ließ ihn frösteln. Sein Körper zitterte, aber Mike blieb am Fenster stehen und versuchte der feinen Stimme des Kindes zu lauschen.
Doch alles blieb still.
Schließlich schloss er das Fenster und betrachtete nachdenklich sein groteskes Spiegelbild. Hinter sich konnte er das behagliche Knistern des Feuers im Kamin hören. Sein Gesicht wirkte blass und angespannt, seine Augen müde und mit einer unbekannten Furcht erfüllt.
Was war nur aus seinem Leben geworden? Was hatte der Teufel ihm noch genommen, außer seiner Frau und kleinen Tochter? Nahm er ihm nun den Verstand?
Mit bebendem Körper – ob vor der Kälte der Nacht oder Furcht vermochte er nicht zu sagen – ging Mike zum Sessel zurück und leerte das Glas Whiskey in einem Schluck. Das Feuer, das sich augenblicklich durch seine Eingeweide fraß, beruhigte ihn, so wie es das immer getan hatte, in jenen langen, schmerzerfüllten Nächten in London.
Er starrte ins Feuer, und dachte dabei