Ursula Isbel-Dotzler

Das Haus der Stimmen


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eine zerrissene Fahne, die leicht im Wind wehte.

      Es gab eine Klingel, aber sie schien nicht zu funktionieren, denn nichts rührte sich, so fest und lange wir auch darauf drückten. Meine Mutter versuchte es mit der Klinke. Die Tür war verschlossen.

      „Lass uns mal hinters Haus gehen”, sagte ich.

      Als wir um die Hausecke bogen, begegnete uns ein Huhn. Es kam zwischen alten Gartenmöbeln daher spaziert, einer Badewanne voller Wasser und einem Schrotthaufen, bestehend aus einem Rasenmäher, einem eisernen Ofen ohne Türen und jeder Menge verrostetem Kram. Es betrachtete uns gelassen, dann begann es dicht vor unseren Füßen im Laub zu scharren.

      „Heiliger Himmel, das ist ja die reinste Altwarenhandlung!”, murmelte meine Mutter.

      Der Garten hinterm Haus war eine Wildnis von Brombeersträuchern und Brennnesselfeldern, zwischen denen sich ein paar Rosenstöcke und Taglilien behauptet hatten. Und unter einem Baum, in dem eine zerschlissene Hängematte baumelte, stand ein feuerrotes Pferd mit hängendem Kopf und döste.

      Mama sah mich an. „Das darf doch nicht wahr sein! Sie hat ein Pferd! “

      „Sie und Jette hatten doch immer jede Menge Tiere, erinnerst du dich nicht?”

      Als der Fuchs unsere Stimmen hörte, wurde er munter, hob den Kopf und kam eifrig auf uns zu. Sicher hoffte er auf einen Leckerbissen. Meine Mutter wich ein paar Schritte zurück, doch ich sah es ihm an den Augen an, wie gutmütig er war. Ich streichelte seine Stirn und seinen Hals, und er prustete leise und freundlich, senkte dann die Nase und schnupperte an den Taschen meines Anoraks.

      „Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich dir was mitgebracht”, sagte ich. „Bist du ganz allein? Wo ist Jule?”

      Mama deutete zum Haus.

      Jetzt sah ich, dass ein Flügel der breiten Terrassentür offen stand; ein Vorhang flappte nach draußen.

      Wir gingen auf die Terrasse, gefolgt von dem Rotfuchs, der offenbar für jede Abwechslung dankbar war. Auf dem Pflaster standen mehrere Eimer voll mit einer gelblichen Masse, ein Topf mit festgetrockneter Farbe, jede Menge Stühle, ein Korbsessel, dessen Sitzfläche durchgebrochen war, ein umgekipptes Regal, über dem nasse Kleidungsstücke hingen, ein riesiger alter Koffer, beklebt mit bunten Etiketten, und ein aufgeplatztes Sofa, aus dem Rosshaar hervorquoll.

      „Heiliger Himmel!”, sagte meine Mutter wieder.

      Ich musste lachen. „Nicht jeder kann so ordentlich sein wie du, Mama.”

      „Ordentlich? Das ist doch die reinste Müllhalde! Ich möchte nicht wissen, wie es drinnen aussieht.”

      Sie schob den Vorhang beiseite und streckte den Kopf durch die Tür. „Jule!”, rief sie. „Tante Jule! Bist du da? Ich bin’s, Edith aus Deutschland! Können wir reinkommen?”

      Als keine Antwort kam, betraten wir das Haus. Das Wohnzimmer sah besser aus als die Terrasse, aber es muffelte schrecklich. Während wir dastanden und nicht recht wussten, was wir tun sollten, raschelte es irgendwo zwischen den ausladenden Sesseln mit den fleckigen Samtbezügen.

      Mama fasste mich am Arm; da kam eine rote Katze unter dem Tisch hervor, sah uns wie ein verwunschener Prinz aus unergründlichen Augen an, schnurrte und rieb sich am Sesselbein. Eine zweite Katze, schwarz, mit weißem Brustfleck und weißen Pfoten, robbte unter dem Sofa hervor.

      Mama stieß ein Geräusch aus, das wie ein Stöhnen klang. „Wer soll sich um all die Tiere kümmern? Das wird ja immer schlimmer! Ich weiß wirklich nicht … “

      Ich kniete mich hin, um die Katzen zu locken. Dabei fiel mein Blick auf die Wohnzimmertür. Sie war bei unserem Eintritt geschlossen oder zumindest angelehnt gewesen, jetzt aber stand sie offen. Ich sah eine kleine, dünne Gestalt im Dämmerlicht auf der Schwelle stehen, die sich sehr aufrecht hielt und uns mit ihren Vogelaugen beobachtete.

      Vermutlich hatte sie Mamas Bemerkung mitangehört, sonst hätte sie uns wohl kaum auf Deutsch angesprochen. „Was suchen Sie hier?”, fragte sie.

      Meine Mutter zuckte heftig zusammen.

      Die rote Katze kam und rieb ihren Kopf an meinem Knie, als wären wir alte Freunde.

      Mama brach in einen Wortschwall aus. „Tante Jule, entschuldige … Ich bin’s doch, Edith! Und das ist Sofie – erkennst du sie wieder? Sie war ja noch ein Kind, als wir letztes Mal hier waren! Tut mir Leid, dass wir uns nicht angemeldet haben, es kam alles so plötzlich … Hoffentlich kommen wir nicht ungelegen?” Dann ging ihr die Luft aus.

      „Ach, ja?”, sagte die alte Dame. „Da kann ja jeder kommen! Können Sie sich ausweisen?”

      Ich bemerkte das Funkeln in ihren Augen, während meine Mutter immer nervöser wurde. „Natürlich … meine Handtasche ist draußen im Wagen. Aber erkennst du mich nicht, Tante Jule?”

      Sie hatte sich sehr verändert. Nicht nur ihre Augen, ihr ganzes Gesicht erinnerte an einen Vogel, die hohlen Wangen, die spitz hervortretende Nase, die tiefen Augenhöhlen und der Flaum von gelblich-weißem Haar, das wirr in alle Richtungen stand, als hätte sie versucht sich eine Punk-Frisur zu machen. Sie tat ein paar Schritte in unsere Richtung und sagte in verändertem Ton: „Natürlich kenne ich dich, Edith Terlinden.”

      Terlinden war der Mädchenname meiner Mutter. Kein Mensch hatte sie in meiner Gegenwart je so genannt. „Mein Gedächtnis funktioniert noch recht gut – meistens jedenfalls-, und auch meine Augen sind noch ganz in Ordnung. Du bist dicker geworden. Und das ist Sofie?”

      Ich richtete mich auf.

      Die rote Katze begann sich auf meinen Füßen zu wälzen.

      Wir sahen uns an.

      Tante Jules Blick war wie der eines Kindes, klar und offen.

      Als Sechsjährige hatte ich sie kaum richtig wahrgenommen. Sie war einfach nur eine alte Verwandte gewesen, die gut Kuchen backen konnte und nicht an uns Kindern herumnörgelte, sondern uns so sein ließ, wie wir waren. Jetzt aber spürte ich plötzlich, dass ich sie mochte und dass sie mir so seltsam vertraut war, als bestünde eine geheime Wesensverwandtschaft zwischen uns. „Hallo, Tante Jule”, sagte ich.

      Sie ergriff meine Hand. Mamas ausgestreckte Rechte übersah sie. Ihre Finger waren kühl und glatt und unglaublich leicht; ich fürchtete, ich könnte ihr die Knochen brechen, wenn ich zu fest zudrückte.

      „Pulcinella mag dich”, sagte sie. „Sie ist eine gute Menschenkennerin.”

      Ihr Blick war prüfend. „Wie hübsch du geworden bist! Du siehst meiner Schwester Anna ähnlich, deiner Großmutter. Sie war immer die hübscheste von uns allen und hatte jede Menge Verehrer, obwohl sie weder kochen noch einen Haushalt führen konnte.”

      Mama lachte. Es klang nervös. „Kochen hat sie ihr Leben lang nicht richtig gelernt. Aber sie hatte Charme. Sie konnte jeden um den Finger wickeln, wenn sie nur wollte.”

      Etwas rappelte an der Terrassentür. Als wir hinsahen, schob das Pferd seinen Kopf ins Wohnzimmer. Der Vorhang war wie ein Brautschleier um seinen Kopf drapiert.

      „Huckleberry hat Hunger.” Tante Jule schnalzte mit der Zunge. „Ich gebe ihm etwas geschroteten Mais und ein paar Äpfel.” Sie sah uns freundlich an. „Schön, dass ihr hier wart! Adieu dann, kommt mich mal wieder besuchen.” Damit ging sie zur Terrassentür, drängte den Fuchs zurück, wobei ein ziemliches Durcheinander mit der Gardine entstand, und verschwand ins Freie.

      Wir blieben verdutzt zurück.

      „Und was machen wir jetzt?”, fragte Mama.

      4

      „Vielleicht sollten wir uns ja im Kro am Hafen einmieten”, sagte meine Mutter.

      „Unsinn! Wir wohnen hier, es ist jede Menge Platz. Außerdem isťs am besten für alle Beteiligten, wenn wir in ihrer Nähe sind. Sie scheint einfach nicht begriffen zu haben, was für eine weite Reise wir gemacht haben. Sie denkt wohl, wir wohnen hier irgendwo