Ursula Isbel-Dotzler

Das Haus der Stimmen


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einem Stuhlbein.

      Minutenlang fummelte ich an den Fensterriegeln herum und gab mir alle Mühe, leise zu sein. Die hereinströmende Nachtluft war köstlich. Sie trug mir den Duft des Meeres und der Weizenfelder zu. Draußen war es dunkel, eine Nacht ohne Mond und Sterne. Die Blutbuchen umgaben das Haus wie ein schwarzer Wall. Manchmal blitzte ein Lichtsignal durch die Finsternis, wanderte über den dunklen Himmel und verschwand.

      Ich ließ das Fenster weit offen und ging ins Bett zurück. Kaum lag ich wieder unter der schweren, klammen Decke, begann ein Fensterflügel im Wind zu klappern. Ich machte die Augen zu und versuchte nicht hinzuhören.

      Dann wachte meine Mutter auf. „Was ist das für ein Lärm”, murmelte sie schlaftrunken. „Erst flüsterst du dauernd, und jetzt dieses Geklapper … Hast du das Fenster aufgerissen?”

      „Ich hab nicht geflüstert”, sagte ich.

      Das Knarren ihres Bettes verriet mir, dass sie sich umdrehte. Es folgte ein unverständliches Gemurmel und ein Seufzer. An ihren regelmäßigen Atemzügen erkannte ich, dass sie wieder eingeschlafen war. Am nächsten Morgen wäre ich am liebsten im Bett geblieben, während Mama schon munter aus dem Badezimmer kam.

      „Das Wasser ist nur lauwarm!”, verkündete sie. „Wahrscheinlich funktioniert der Boiler nicht mehr richtig. Steh auf, Sofie, wir müssen gleich zum Hafen fahren und einkaufen, es ist ja nichts mehr im Haus.”

      Tante Jule weigerte sich mitzufahren. „Ich gehe nicht mehr gern unter Menschen”, sagte sie entschieden. „Sørensen bringt mir ab und zu einen Karton Lebensmittel, und Wognsens liefern Futter für die Tiere. Ich esse sehr wenig – etwas Brot und Obst, ein paar Kartoffeln, ab und zu mal ein Ei.”

      Damit ging sie hinaus, um den Rotfuchs und die Hühner zu füttern. Die Katzen folgten ihr, kläglich maunzend und mit hoch erhobenen Schwänzen. Inzwischen waren es drei; eine zarte graue Kätzin namens Hulda hatte sich zu ihnen gesellt.

      „Übrigens”, sagte ich, während ich mich hinters Steuer setzte, „ich habe letzte Nacht nicht geflüstert.”

      „Mir war aber so, als hätte mir irgendwer ins Ohr geflüstert.”

      „Mir auch”, sagte ich, die Hand am Zündschlüssel.

      „Vielleicht hat eine von uns im Schlaf gesprochen?”

      Ich schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein, dann hätten wir es ja nicht beide gehört. Und dass wir alle zwei im Schlaf geflüstert haben, ist eher unwahrscheinlich.”

      „Möglicherweise war Jule bei uns im Zimmer. Zutrauen würde ich es ihr. Ich glaube, sie ist ein bisschen verrückt, Sofie.”

      Wir sahen uns an. „Ich weiß nicht”, sagte ich nach einer Weile. „Sie ist einfach nur sonderbar und ab und zu etwas wirr. Aber dass sie nachts in unser Zimmer schleicht und uns ins Ohr flüstert – nein, du, das kann ich mir nicht vorstellen.”

      Beim Supermarkt Brugsen am Fährhafen kauften wir drei Kartons voller Lebensmittel und beim Bäcker einen köstlichen Hefekranz mit Nussfüllung, der Kransekage hieß. Davon vertilgte ich während der Rückfahrt fast die Hälfte.

      „Wir müssen uns erkundigen, ob es auf der Insel ein Seniorenheim gibt”, sagte Mama, während ich den Kuchen kaute. „Jule kann unmöglich weiter allein in diesem riesigen alten Kasten hausen. Sie isst ja kaum noch etwas.”

      „Alte Leute essen oft nicht sehr viel. Und ich glaube, sie ist ganz zufrieden. Ihre Tiere versorgt sie jedenfalls gut, das sieht man.”

      „Ja, aber lange geht das nicht mehr so mit ihr. Eines Tages brennt sie das ganze Haus ab. Sie hat doch nur Kohleöfen in den Zimmern.”

      „Freiwillig geht Tante Jule bestimmt nicht ins Seniorenheim”, sagte ich. „Und zwingen kannst du sie nicht.”

      „Man müsste mal mit ihrem Arzt sprechen. Ein Arzt könnte sie sicher … einweisen.” Bei dem Wort „einweisen” stockte sie. Offenbar merkte sie selbst, wie sehr es nach Zwang und Gefängnis klang.

      „Das kannst du nicht machen”, erwiderte ich. „Vielleicht finden wir jemanden, der täglich ein paar Stunden nach ihr sieht.”

      „Und was macht sie den Rest des Tages? Und nachts? Menschen, die so durcheinander und vergesslich sind, kann man nicht allein lassen. Sie stellen die Herdplatten nicht mehr ab und lassen das Wasser laufen; sie essen ihre Gebissreinigungstabletten, weil sie sie für Vitaminpillen halten … Du ahnst ja nicht, was alles passieren kann!”

      „Das Leben ist sowieso ein einziges Risiko. Dachziegel können einem auf den Kopf fallen, Geisterfahrer einen über den Haufen fahren und Gasleitungen können explodieren.”

      Meine Mutter behauptete, das wäre nicht dasselbe. Es gäbe so etwas wie ein erhöhtes Risiko bei Menschen, die nicht mehr richtig tickten. Ganz so drückte sie sich zwar nicht aus, aber im Grund meinte sie es nicht anders.

      Wir diskutierten noch immer darüber, als wir Runestengaard erreichten. Ich steuerte den Wagen über die Auffahrt; da kam uns Huckleberry, der Rotfuchs, unter den Bäumen entgegen. Ich stieg aus und gab ihm ein Stück vom Kransekage, weil er so bittend und vertrauensvoll dreinschaute. Er schmatzte begeistert und der Speichel tropfte ihm nur so aus den Mundwinkeln, da konnte ich nicht widerstehen und gab ihm noch ein zweites Stück.

      Wir fuhren bis vors Haus, um die Lebensmittel auszuladen. Huckleberry folgte dem Wagen und versuchte den Kopf durchs Fenster zu stecken, sobald ich wieder anhielt.

      „Pass auf, der trampelt noch mit den Hufen auf der Kühlerhaube herum!”, jammerte meine Mutter, immer bereit, Katastrophen zu erwarten. Doch Huckleberry tat nichts dergleichen. Er leistete uns nur Gesellschaft, während wir die Kartons aus dem Kofferraum hievten, und schnupperte an dem Paket mit den Keksen. Er war das netteste Pferd, das ich je kennen gelernt hatte; ich merkte, dass ich auf dem besten Weg war, mich in ihn zu verlieben.

      Wegen des fehlenden Schlüssels mussten wir die Kartons ums Haus tragen. Tante Jule saß zwischen dem rostigen Elektroherd und den Farbtöpfen, die rote Katze auf ihrem Schoß. Zwei Hühner pickten um sie herum im Gras. Sie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt.

      Als wir auftauchten, verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie zuckte zusammen und öffnete die Augen. Offenbar erkannte sie uns nicht gleich, denn sie sagte etwas auf Dänisch und machte eine abwehrende Handbewegung.

      „Hallo, Tante Jule, wir sind’s nur”, sagte ich. „Wir haben eingekauft. Magst du ein Stück Kranzkuchen?”

      Sie schüttelte den Kopf. Ich glaubte förmlich zu sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. „Danke, nein, ich vertrage keinen Hefeteig”, erwiderte sie dann auf Deutsch. „Meine Güte, was schleppt ihr denn da alles ins Haus?”

      „Wir sind keine Hungerkünstler, Jule”, sagte meine Mutter spitz. „Und es ist absolut nichts Essbares mehr da.”

      Tante Jule schloss die Augen und tat, als hätte sie nichts gehört. Ich dachte, dass sie vielleicht eine etwas verwirrte, aber auch ziemlich listige alte Dame war, die man nicht unterschätzen durfte.

      Die Küche war ein einziges Chaos. Das Spülbecken quoll über von Töpfen, Geschirr und Pfannen mit eingetrockneten, vergammelten Essensresten, die fürchterlich stanken.

      Mama brach in Wehgeschrei aus und krempelte die Ärmel hoch. „Ich kümmere mich um den Abwasch”, sagte sie. „Übernimm du den Kühlschrank. Er muss bestimmt abgetaut und gesäubert werden. Dann können wir die Lebensmittel verstauen.”

      Ich öffnete die Fenster weit, biss die Zähne zusammen und machte mich an die Arbeit. „Aber später geh ich ans Meer”, murmelte ich. „Den ganzen Tag verbringe ich nicht in dieser muffigen Bude!”

      Dann kamen die Katzen und verkündeten mit kläglichen Gesängen, dass sie kurz vor dem Verhungern waren. Ich verdünnte ihnen die Milch, die wir mitgebracht hatten, und brockte Kekse hinein, dazu noch ein paar Stückchen Käse, worauf sie schnurrend um mich herumstrichen und mir Liebenserklärungen machten. Pulcinella sprang auf