Ursula Isbel-Dotzler

Das Haus der Stimmen


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riesig wirkte. Der Rotfuchs verstellte ihr den Weg und steckte die Nase in den Eimer. Ein paar Hühner kamen aus allen Himmelsrichtungen angerannt, scharten sich um sie und reckten die Hälse.

      Tante Jule stellte den Eimer ab, griff in die Tasche ihrer ausgebeulten Hose und verstreute Körner. Sofort begann ein wildes, hektisches Geflatter und Gepicke.

      Ich zog meine Mutter hinter mir her. „Tante Jule”, sagte ich laut, „können wir unser Gepäck ins Haus bringen?”

      „Ich bin nicht taub, Kind. Ihr wollt also hier wohnen? Das Gästezimmer ist rechts in der oberen Etage. Aber passt auf, ein Teil der Treppenstufen ist morsch.”

      „Könntest du die Vordertür aufschließen?”, fragte Mama.

      Tante Jule sah sie zerstreut an. „Ich bin nicht sicher, wo der Schlüssel hingekommen ist. Ich finde ihn schon einige Zeit nicht mehr – ein paar Tage oder Wochen. Im April war er noch da … “

      Die Treppe war wirklich morsch. Eine der Stufen war bereits durchgebrochen. Meine Mutter kam aus dem Seufzen nicht mehr heraus.

      Das Haus roch dumpf und modrig und kam mir riesig vor. Allein der Flur im oberen Stockwerk war groß wie ein Ballsaal. Die Wände hingen voller Bilder, alte Stiche und Aquarelle und Ölgemälde.

      Ich versuchte einen Fensterflügel zu öffnen, aber der Griff gab nicht nach. Erst beim dritten Fenster klappte es. Der Luftzug brachte die dunklen, staubigen Spinnwebfäden an der Decke zum Zittern.

      Aufs Geratewohl öffneten wir eine Tür zur Rechten, denn Tante Jule hatte uns nicht genau gesagt, wo das Gästezimmer lag. Der Raum war leer bis auf einen mächtigen Schrank und ein Bett aus Messing, in dem kein Bettzeug war, nur drei gestreifte Matratzenteile.

      „Das kann ja heiter werden!”, sagte Mama.

      Wir versuchten es mit der nächsten Tür. Dahinter verbarg sich ein Zimmer, das mehr als bewohnt wirkte; es war voll gestopft mit Möbelstücken. Überall lagen Kleider, Schuhe, Taschen, Bücher und alte Zeitschriften herum. Wollsachen quollen aus einer geöffneten Truhe. In einer Ecke stand eine Leinwand, die halb mit einem Stück Stoff verhängt war.

      Hastig traten wir den Rückzug an. Das Nebenzimmer war unerwartet ordentlich mit einem Sofa, einem runden Mahagonitisch und eleganten, steiflehnigen Stühlen, einem schönen verzierten Eichenschrank, Orientteppichen und einem hohen Ofen aus schwarzem Gusseisen; doch es gab kein Bett darin.

      Über dem Sofa hingen zwei Porträts. Eines zeigte eine junge Frau mit einer Fülle goldblonder Haare, schmalem Gesicht und großen ernsten Augen. Sie trug ein dunkles Samtkleid und hielt einen Strauß Mohnblumen in der Hand.

      „Das ist Jule kurz nach ihrer Heirat; ein Freund ihres Mannes hat sie gemalt”, sagte Mama. „Du sahst ihr in ihren jungen Jahren ziemlich ähnlich.”

      Das zweite, etwas kleinere Bild war das Porträt einer dunkelhaarigen Frau, schon etwas rundlich, mit hellen Augen und einem rätselhaften, leicht spöttischen Lächeln um den vollen Mund.

      „Und das muss Jette sein, als sie jung war. Eine Schönheit ist sie nie gewesen.”

      Wir drehten uns um. Eine Stimme rief von der Treppe her: „Was macht ihr da? Schließt sofort die Tür! Rasch! Die Tür zu, sage ich!”

      Verwirrt traten wir zurück.

      Ich griff nach der Klinke und zog die Tür zu.

      Tante Jule stand auf dem Treppenabsatz und musterte uns wie ein Racheengel. „Was habt ihr gemacht?”, wiederholte sie in schrillem Ton.

      „Wir wussten nicht … “, begann Mama. „Wir wussten nicht, wo das Gästezimmer ist, da haben wir … “

      „Ihr habt sie herausgelassen!” Tante Jule klammerte sich am Geländer fest. „Jetzt sind sie im ganzen Haus – überall – das ist schrecklich!”

      Mama und ich wechselten einen Blick. Wir hatten keine Ahnung, wen sie meinte.

      „Aber im Zimmer war niemand”, versicherte ich.

      „Mach dir keine Sorgen, das Zimmer war vollkommen leer. Kein Mensch war drin!”

      Sie beachtete mich nicht. „Jetzt sind sie überall im Haus”, wiederholte sie. Plötzlich war ihre Stimme tonlos. „Ihr habt sie herausgelassen … “

      5

      Nachts rüttelte der Wind an den Rotbuchen, die Runestengaard umstanden. Meine Mutter schnarchte leise, aber unaufhörlich.

      Ich lag in dem fremden Bett mit dem klammen Bettzeug, sah in die Dunkelheit und dachte an Michael, wie meistens, wenn ich nicht schlafen konnte. Michael und ich hatten uns auf der Geburtstagsfete einer Freundin kennen gelernt und Hals über Kopf ineinander verliebt. Ich hatte geglaubt, es wäre für immer und ewig, aber es hatte kaum mehr als ein halbes Jahr gedauert. Dann hatte er sich ebenso rasch und heftig in eine Studienkollegin verliebt. Die Enttäuschung über den Verrat steckte noch tief in mir wie ein Stachel, der sich nicht entfernen lässt.

      In die Schnarchtöne vom anderen Ende des Zimmers mischte sich das Knurren meines Magens. Tante Jules Kühlschrank war praktisch leer gewesen bis auf ein Endchen Käse, etwas Butter, einige Scheiben Knäckebrot und zwei Eier; und wir hatten nicht daran gedacht, Vorräte mitzubringen. In einer alten Blechdose gab es noch ein paar prähistorische Kekse, die fürchterlich schmeckten.

      „Jette hat mal wieder vergessen einzukaufen”, sagte Tante Jule. Das war nicht das erste Anzeichen von Verwirrung, das uns auffiel; ein Zustand, der kam und ging, ohne dass es einen bestimmten Anlass dafür zu geben schien.

      Was mich stärker beschäftigte, war die Sache mit dem Zimmer. Ihr habt sie herausgelassen … Die Anschuldigung echote in meinem Kopf; ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Irgendwie hatte es geklungen, als wären Geister oder Kobolde im Raum eingeschlossen gewesen, gefährliche, unsichtbare Wesen, die sich nun frei bewegten und das ganze Haus unsicher machten.

      Doch natürlich war das alles Unsinn, die Schrullen einer alten Frau, wie Mama versichert hatte.

      „Es klingt beinahe, als hätte sie einen leichten Verfolgungswahn”, sagte sie noch vor dem Einschlafen. „Vielleicht hat sie deshalb auch die Eingangstür verschlossen und den Schlüssel so gut versteckt, dass sie ihn jetzt nicht wieder findet.”

      Zwischen den Windstößen, die wie heftige Atemzüge klangen, hörte ich das Meer, das Geräusch der Wellen, die die Küste umspülten. Es klang wunderbar, eine Melodie, die ein Echo in meinem Inneren fand, so, als gäbe es einen Gleichklang zwischen dem Rhythmus meines Blutes und dem der Wellen.

      Das Rauschen und Brausen trug und schaukelte mich. Vielleicht war ich als ungeborenes Kind so im Bauch meiner Mutter geschaukelt worden, oder ich kannte das Wiegen und Branden aus uralter Zeit, einem Wissen, das die Tiefenpsychologen „das kollektive Gedächtnis” nennen.

      Endlich schlief ich ein und erwachte jäh von einem drängenden Raunen und Wispern. Um mich her war es dunkel.

      Ich setzte mich im Bett auf, lauschte und überlegte, wo der Schalter für die Nachttischlampe sein mochte. Meine Mutter schnarchte vor sich hin. Die Stimmen waren verstummt, doch vielleicht hatte ich Mamas Gepruste für Flüstern gehalten, oder den Wind, der ums Haus strich; oder das Gischten der Wellen, die über den Strand spülten.

      Ich legte mich wieder zurück. Erst jetzt spürte ich, wie heftig mein Herz schlug. Der Raum roch dumpf wie ein unterirdisches Gewölbe. Was hatte ich geträumt?

      Ich war mit Michael in einer Kirche gewesen, doch es war keine Hochzeit, sondern eine Beerdigung, bei der es keine Trauergäste außer uns beiden gab, auch keinen Priester. Und die Kirche war keine richtige Kirche gewesen, sondern eine Art Mausoleum oder Gruft. Hatte ich die flüsternden Stimmen vielleicht nur geträumt?

      Vergeblich versuchte ich wieder einzuschlafen. Das Haus schien seinen eigenen Atem zu haben, einen verbrauchten, modrigen Atem. Er lastete wie ein Druck auf mir, obwohl wir die Fensterflügel vor dem Zubettgehen ein Stück geöffnet und mit Riegeln gegen den Wind