Fabrik komme, oder die Sendung unbehoben dort bis Sonnabendnachmittag liegenlassen muß. Plötzlich überlege ich mir, ob ich nicht Nachtschicht übernehmen könnte? Schwerer als die Arbeit bei Tage kann die Nachtarbeit auch nicht sein, wohl aber ist sie besser bezahlt, ich kann dann vor allem meine Eltern aufsuchen, ohne bis zum Ende der neuen Woche damit zu warten. Ich bin sehr unruhig, die Sorge um sie verläßt mich keine Minute. Ich melde mich am Mittwochmorgen dazu, und meine Bitte wird mir gern erfüllt. Donnerstagmorgen erwache ich zwar auch wie sonst um fünf Uhr, gehe aber bis acht Uhr spazieren, hole mir dann die Sendung vom Amte ab. Es ist der Geldbetrag, den ich am vergangenen Sonnabend nach V. zur Bezahlung meiner Schulden abgesandt habe. Debetsaldo beglichen! steht auf dem Abschnitt der Geldanweisung. Soll das heißen, daß meine Schuld von anderer Seite getilgt ist? Dann kann es nur der Meister gewesen sein, der es auch jetzt nicht dulden wollte, daß einer der Zöglinge von Onderkuhle Schulden bei einem Fremden einging. Mich empört dieses Verhalten, obwohl es wahrscheinlich aus guten Motiven entspringt. Aber ich will nicht mehr unter der Herrschaft von Onderkuhle stehen, ich will tun, was ich muß und was ich will, denn dies ist das gleiche. Aber mit diesen Gedanken betäube ich nur unvollkommen meine nagende Sorge um meinen Vater. Ich denke daran, ihm Blumen mitzubringen, dann aber rede ich mir ein, er sei doch gesund, wie lächerlich wäre ich dann, käme ich mit einem Blumenstrauß an! Ich fühle, daß ich ihn sehen muß, daß ich keine Stunde länger warten kann. Vielleicht ist es genug, daß ich ihn nur sehe, vielleicht stellt er an mich keine Frage, vielleicht kann ich ihm verschweigen, was in Onderkuhle vorgefallen ist und welchen Beruf ich hier ergriffen habe. Onderkuhle ist vorbei. Bin ich gesunken? Bin ich gestiegen? Einerlei – ich muß zu ihm.
In großer Eile durchmesse ich die Straßen, die heute besonders strahlend, frühsommermäßig aussehen, alles glänzt, alles ist gesund, fest und licht. Ich spüre meine Jugend, meine auch durch die schwere Arbeit nicht zu brechende Kraft.
Aber ich hungere nach »Proben« nicht mehr. Ich bin in der Wirklichkeit.
Wäre nur mein Vater gesund! Ich ziehe die Klingel unserer Wohnung. Das mir wohlbekannte, in den sieben Jahren Abwesenheit unvergessene, etwas bellende Läuten der Schelle ertönt. Es dauert keine drei Herzschläge lang, da stürzt meine Mutter zur Tür, bemüht sich erst aufgeregt mit dem Öffnen des Patentschlosses, und dann reißt sie die Tür vor mir auf. Sie strahlt mich mit ihren kurzsichtigen, hellbraunen Rehaugen an, sie umfängt mich, eben aus dem Schlafe (dem zweiten Einschlafen, ich erfuhr es später) erwacht, mit ihren warmen, zarten Armen, sie drückt mich an sich, küßt mich, der ich sie um Haupteslänge überrage. Einem Fremden (es ist aber totenstill in der großen Wohnung), einem Fremden könnte es scheinen, daß wir Herz an Herz aneinandergeschmiegt sind und daß nur meine Unbehilflichkeit und Schüchternheit es verhindern, daß sich unsere Lippen berühren. Ich aber weiß, daß sie körperliche Berührung auch mit ihrem Sohne scheut. Ich weiß, daß sie ihre Eigenheiten oder ererbten Antipathien auch bei aller Liebe nicht überwinden kann. Aber dieser Kuß einer Mutter soll mir nicht fehlen. Wäre nur mein Vater gesund und ohne Sorgen! Die Sorgen will ich auf mich nehmen und kann es; wie aber ihm eine neue Gesundheit verschaffen? Sie sieht so unbekümmert aus, meine Mutter, sie zieht mich wie ein übermütiges Pensionatsmädchen in ihr Zimmer. Warum führt sie mich aber nicht zu meinem Vater? Warum von ihm kein Wort? »Ich schlafe jetzt im Boudoir«, sagt sie, »acht Zimmer haben wir« (wir, das Wort tut mir wohl), »acht Zimmer haben wir eingekampfert und dunkel gemacht, bis wir einen Ersatz haben … « Es muß also noch nichts verloren sein, sonst könnte sie nicht in solcher Seelenruhe ihre Einteilung getroffen haben. Aber warum spricht sie nicht von ihm? Um ihre vollen Lippen kommt manchmal ein gezwungenes Lächeln, ihre zartbraunen Augenlider sind etwas zerknittert und vibrieren oft bis in die schönen, dunkelblauen Augenwimpern. Ich trete in das Boudoir. Es sieht nicht unordentlich aus, ebensowenig aber auch richtig aufgeräumt. Sie hat sich, vielleicht um sich die Mühe des Bettenmachens zu ersparen, auf einer altmodischen Couchette aus Decken und Seidenkissen ein Lager zurechtgemacht, wo sie nachts schläft, wohl auch am Tage ruht. Daneben steht eine altertümliche Stehlampe, bei deren Lichte sie wohl die halben Nächte lesend verbringt. Auf einer pelzgefütterten Decke, einer früheren Wagen- oder Schlittendecke, die über die Kissen gebreitet ist, liegen zahlreiche Bücher umher, auf einem Ecktischchen, das zur Aufbewahrung von allerlei Toilettenartikeln dient, steht auch ihr altes, kleines, aus Elfenbein geschnitztes Kruzifix in einem hellblauen, mit Seide ausgeschlagenen Futteral. Vor diesem kniet eine der zahllosen Puppen, die meine Mutter besitzt. Es gibt Puppen in allen Winkeln des Raumes, große und kleine, Babys und Bäuerinnen, Tänzerinnen und Schornsteinfeger durcheinander. Manche mit offenen, manche mit geschlossenen Augen, eine hat einen Fingerhut aus Gold (ich erinnere mich, es war ein Weihnachtsgeschenk meines Vaters in einem »besseren« Jahr in meiner Kindheit – auch ich bekam damals ein Geschenk), einen goldenen Fingerhut auf das winzige Köpfchen gepreßt, eine andere, im Verhältnis zu dieser riesig groß, hat das berühmte Perlenkollier, aus verschiedenfarbenen Perlen gemischt, um den Hals und um die wespenartig eingeschnürte Puppentaille geschlungen. Meine Mutter wirft die ganze Puppengesellschaft auf einen Haufen zusammen, gibt aber bei allem Ungestüm acht, daß keiner Puppe im wahrsten Sinne des Wortes ein Haar gekrümmt werde. Dabei strömt sie gegen mich von lebhaftester Zärtlichkeit über, sie nimmt mich, als wäre auch ich eine überlebensgroße Puppe, spielerisch in die Arme, stupst mich wieder etwas fort, um mich aus einiger Entfernung besser sehen zu können, sie spricht auf mich ein, ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen. Sie hätte mich vorhin schon am Schellen vor der Entreetür erkannt, sie sei so glücklich, mich zu sehen. »Ich muß dich doch näher ansehen, Geliebtes, ja, das ist doch ein Wunder! Und das schöne Haar!« sagt sie; während sie zum Fenster hinaussieht, höre ich von unten das Schellen des Milchwagens. »Jetzt erst kommt der Mann mit der Sahne«, sagt sie, »ich dachte vorhin beim Schellen, er sei es, sonst kommt er immer früher. Wir müssen uns jetzt ohne Diener behelfen, die Portierfrau hilft ab und zu, sie hat wenig Zeit, kostet viel Geld, glaube ich, aber es dauert nicht mehr lange … es dauert nicht mehr lange … « Mechanisch wiederholt sie diese Phrase, in Gedanken wieder ganz anderswo, jetzt wohl bei meinem armen Vater, dann faßt sie sich: »Wir haben es im Kasino angeschlagen, es muß sich heute einer melden, ein neuer Diener, jemand, der deinem Vater gefällt … Ach, wie hast du, du riesengroßer Zuckerjunge, die Nacht verbracht?« fragt sie weiter. »Oh, das schreckliche Unglück! Onderkuhle in Flammen! Und ich habe es nie gesehen! Aber sie bauen es wieder auf, übrigens ganz einerlei, du gehst doch nicht mehr dorthin, geliebter alter Junge! Ich habe es nie gemocht. Dein Vater wollte es. Ich mochte es aber durchaus nicht. Daß ich dich wieder da habe! Süßes! Daß die heilige Mutter Gottes dich mir wiedergebracht hat! Du hast doch in diesen Tagen Geburtstag gehabt! Wievielter? Nein, sag nichts, ich werde alt, lauter graue Haare … Oh, daß er nicht mehr ist, unser guter alter Daniel! Es ist ja wahr, er wusch sich in der letzten Zeit selten, und wenn wir Gesellschaft hatten, mußten wir uns Lohndiener nehmen, und natürlich auch eine Kochfrau und Abwaschmädchen, aber das war ja im vergangenen Jahr nur einmal. Jetzt werde ich die Sahne besorgen; nein, ich glaube, die Portierfrau nimmt sie ihm unten ab, er darf nicht über die Treppenläufer, der grobe Milchmann, es wird ja bald neun Uhr sein, um diese Zeit kommt sie gewöhnlich, die dumme Frau … «
»Wie geht es dem Vater?« frage ich.
»Ich bin in Sorge um ihn«, sagt sie. Wie sehr, das beweisen mir der plötzlich sich verdunkelnde Blick und die Bewegung ihrer Lippen, die zwar immer noch vollständig glatt und runzellos sind, wie mit Email überstrichen, aber jetzt einen eigensinnigen und tief hoffnungslosen Ausdruck annehmen.
»Wieso denn? Was hat er? Ist er schwerkrank? Wer behandelt ihn? Wie lange? Warum hat man mich nicht längst benachrichtigt?« frage ich.
»Er schläft noch«, antwortet sie mit einer sonderbaren Betonung dieser Worte.
»Noch? Wieso?«
»Von neuem. Er glaubte jeden Tag, du kämst. Er erwartet dich sehr. Er erwachte täglich gegen sieben Uhr, so auch heute. Er will die Augen offen behalten. Er zwingt sich sogar und geht ins Badezimmer und nimmt sich den Bart ab. Dann will er dich empfangen. Aber er kann es nicht. Wenn um neun Uhr der Milchmann schellt, liegt Papa komischerweise in tiefem Schlaf, und nichts weckt ihn vor Mittag.«
»Ist es Schwäche? Hat er Schmerzen?«
»Weiß ich es denn? Ich weiß es nicht. Komm ins Zimmer, mein Heißgeliebter.