gern, daß Ihr … « Diesen Satz streiche ich aus. Ich überlege, was ich habe, was mir fehlt, was ich wünsche, was ich fürchte. Mir geht, ich kann es nicht anders sagen, das Herz bei dem Gedanken an die erste Freiheit meines Lebens auf. In Onderkuhle habe ich schön gelebt, aber nicht frei. Die Luft hier, die mir beim Betreten der Stadt chlorartig giftig erschienen ist, kommt mir jetzt wunderbar leicht vor, lebenspendend und berauschend. So kommt es, daß ich etwas schreibe, das nicht im Sinne meiner Erziehung ist, nicht der Lehre des Meisters von der Distanz entspricht.
Aber ich fühle es so: »Ich weiß, geliebte Eltern, daß Ihr noch kostbaren Schmuck und ähnliches besitzt, wovon Ihr Euch vielleicht nur aus Sorge für meine Zukunft nicht trennen könnt. Diese Sorge fällt jetzt fort. Verkauft, wenn es so ist, diese Gegenstände, die mir heute wie später nur zur Last wären, und wenn meine Bitte Euch etwas bedeutet, spart nicht, um mir einmal etwas zu hinterlassen. Ich habe gute Pläne und hoffe, daß ich mich nicht nur selbst erhalten, sondern auch etwas für meine weitere Fortbildung zurücklegen kann. Ich hoffe, daß ich Euch bald wiedersehe. Sorgt Euch nicht! Ich will den Versuch machen, allein zu leben. Ob er nun gelingt oder nicht, auf jeden Fall seht Ihr mich bald wieder. Laßt mir Zeit und sorgt Euch nicht! Meine Bitte vergeßt nicht!
Ich küsse meiner teuren Mutter die Hand, ich grüße in tiefer Verehrung meinen geliebten Vater!
Euer treuer Sohn
Boëtius.«
Ich schiebe die Blätter unter die Türschwelle, wo sie die heimkehrenden Eltern sofort finden müssen. Dann kehre ich durch die breiten Straßen in mein Hospiz zurück. Die meisten Läden sind schon geschlossen, einige Läden in der Nähe des Bahnhofes aber noch offen. Ich kaufe vor allem Knöpfe, die ich an meiner Jacke an Stelle der silbernen annähen will, dann Toilettengegenstände, einen billigen Hut und einen praktischen Mantel. In dem Wartesaale des Bahnhofes esse ich eine Kleinigkeit, die aber dennoch teurer kommt, als wenn ich mir Brot und Käse oder Speck gekauft hätte. Alle Ausgaben trage ich ins Notizbuch ein.
Inzwischen ist es dämmerig geworden. Ich bin in dem Hospiz angelangt. Nun ist es von Leben erfüllt in der sehr stillen Gasse, in welche der Straßenlärm von den Boulevards nur undeutlich herüberdröhnt. Mein Zimmerchen ist sauber aufgeräumt, aber nicht sehr wohnlich. Eine fahl beleuchtete Feuermauer vor dem weit geöffneten Fenster. Ein Stück violetten Himmels ist zu sehen, noch etwas umdunstet. Aber während ich im Bette liege und auf den Schlaf warte, löst sich dieser Dunst in der beginnenden Nachtkühle, und die Sterne treten hervor, umgeben von leichten schwebenden Wolken von unbestimmbarer Farbe und unverkennbarem Umriß. Diesen Anblick ertrage ich heute ohne Bedrückung, ohne panisches Entsetzen, ohne Furcht. Von den milchig beleuchteten, die Nähe des noch unsichtbaren Mondes verkündenden Nachtwolken geht mein Gedanke auf Cyrus über, der in der letzten Nacht am See von Onderkuhle verschwunden ist. Hat er sich, während ich im ersten Schlummer lag, frei gemacht und hat die andern Pferde wieder aufgesucht? Oder weidet er jetzt, sich einer ungewohnten Freiheit freuend, auf den weiten prachtvollen Wiesen längs des Bahndammes zwischen Onderkuhle und V.? In einem der auf den Innenhof hinausgehenden Säle des christlichen Hospizes beginnen Männer und Frauen einen langgezogenen eintönigen Choral, der von Predigtworten unterbrochen wird. Ich versuche vergebens, den Worten zu folgen. Darüber schlafe ich ein, traumlos, tief, gesättigt.
Kapitel Fünfundzwanzig
Am nächsten Morgen habe ich mich, früh erwachend, schnell gewaschen. Ich bekomme in dem sauberen, aber dennoch muffig riechenden Frühstückssaal für wenige Heller ein annehmbares Frühstück. Es ist noch früh am Morgen. Die auf sechs Uhr angesetzte Morgenandacht warte ich nicht ab, sondern trete vor das Haus, in dem festen Entschluß, Arbeit und Verdienst zu finden. Die Straßen sind verhältnismäßig frei von Fuhrwerken, aber die Gehwege sind von einer dichten Menge stumm dahineilender Arbeiter bedeckt, die alle, ob alt oder jung, denselben, mehr schiebenden als schreitenden Gang und dieselbe Gesichtsmiene des Unausgeschlafenseins an sich tragen. Aufs Geratewohl schließe ich mich einer relativ markanten Erscheinung an, einem hochgewachsenen blatternarbigen Arbeiter oder Handwerker oder Bahnangestellten, den ich aber trotz aller Vorsicht an der nächsten Ecke im Gedränge aus den Augen verliere. Aber ich folge der einmal eingeschlagenen Richtung, die in das Fabrikviertel der Stadt zu führen scheint. Ich durchstreife lange Straßenzüge, über welche der in der Morgensonne lange Schatten der Mietskasernen hinüberfällt. Es ist noch kühl, Karren mit herrlichem Obst und üppigen Blumen ziehen vorbei und verbreiten schönen Duft. Ich komme in ein mir von der Kinderzeit her ganz unbekanntes Viertel, das möglicherweise damals noch nicht bebaut war. Jetzt steht hier eine mächtige Fabrik neben der andern. Eine Schicht Arbeiter verläßt eben durch ein Portal das Gebäude, die andere Partei tritt, ohne einen von der Gegenpartei zu erkennen oder zu grüßen, in den großen Komplex ein, der sich bis zum Kanal erstreckt. Jeder muß den Portier passieren, einen dicken, grauhaarigen Mann mit englischer Pfeife (kalt), der bei jedem Eintretenden sich ein Zeichen an eine Tafel macht, die im Dämmerlichte seiner Zelle neben riesigen Schlüsselregalen und dem Zifferblatt einer Stechuhr blinkt. Obwohl diese Tafel viele hundert Namen umfaßt, braucht keiner der Eintretenden zu warten, aber ebensowenig wird ein Fremder durchgelassen. Die Büros in den Verwaltungsgebäuden haben einen eigenen Eingang, der erst in ein gut gehaltenes Vorgärtchen führt, dann in den schönen, wenn auch schmucklosen Rohziegelbau. Mir sowie einigen andern jüngeren Menschen gibt der Portier ein Zeichen. Wir bleiben seitwärts stehen, um niemand im Wege zu sein. Alles spielt sich leicht und selbstverständlich ab. Nichts trübt meine gehobene, fast freudige Stimmung. Schlag sechs Uhr beginnt eine mächtige Sirene zu heulen und erschüttert mit ihrem kaum zu ertragenden Dröhnen das ganze Gebäude. Bis auf wenige Nachzügler ist die ganze Menschenmenge im Innern der einzelnen Fabrikgebäude verschwunden. Jetzt wird alles stiller, man hört deutlicher das rhythmische Donnern, das tiefe, wie unterirdische Surren, kurze Pfiffe, das Rasseln ablaufender Ketten, ferne das Wiehern eines Gaules oder das Klingeln einer Straßenbahn, die wohl um den Häuserblock einen scharfen Bogen macht, so daß die Räder kreischen.
Es ist ohne alle Überlegung gekommen, daß ich wie die andern jungen Menschen mich hier in dieser fremden Fabrik um Arbeit anstelle. Wir erhalten von einem Angestellten ein mit Buchstaben durchstanztes Stück Blech und werden in einen kleinen Schuppen beordert, wo ein Werkbeamter in grauem Zwilchanzug dasitzt und uns die Personalien abnimmt. Dann wird eine Sehprüfung, eine Hörprüfung gemacht, wobei ich am besten abschneide, ein paar Intelligenzfragen gestellt, die mir zwar fremd sind, die ich aber doch gerade noch lösen kann. Dann werden die gemachten Notizen einem andern Beamten, wohl einem Ingenieur, übergeben, der alles mit seinen tiefliegenden Augen mustert, aber weder an mir noch an den andern etwas Auffälliges findet. Er fragt mit monotoner Stimme, als lose er ein Gesellschaftsspiel aus: »Gelernt? Ungelernt? Büro? Montage? Zeichner? Lehre? Schwachstrom? Spuler? Aushilfe? Schlosser? Fräser? Chauffeur? Modelltischler?« Gerade diese Leistungen scheint er zu brauchen, unglücklicherweise ist keiner von uns dazu geeignet. Ich weiß nicht, wozu ich mich melden soll. Schließlich kommt er noch einmal auf seine Listen zurück und übergibt einigen von uns neue Blechmarken. Diese begeben sich, nachdem sie auf die Marke einen Blick geworfen haben, in einen Teil des riesigen Komplexes, der aus zahllosen improvisierten, mit Wellblech gedeckten Schuppen, dann wieder aus wie auf Zeit und Ewigkeit aufgebauten kirchenschiffähnlichen Hallen besteht. Dazwischen liegen Garagen und Lagerräume aus Eisenbeton, Kleinbahngleise mit vollständig rangierten Zügen, viele Waggons, einer wie der andere mit Maschinenteilen, offenbar Dynamos und Turbinen, wenn mich meine geringen technischen Kenntnisse nicht trügen, beladen. Jetzt ist die Arbeit überall in vollem Gange. In den Höfen herrscht großes Getümmel. Die Lastautos rollen aus den Gebäuden vor. Die kleinen Eisenbahnlokomotiven setzen sich kreischend und pfeifend in Bewegung, sie ziehen, starke Dampfwolken ausstoßend und sich wie große Eilzuglokomotiven gebärdend, ihren Weg zu den Anschlußgleisen der staatlichen Eisenbahn. Der Lärm wird immer schriller. Das monotone Brausen und Dröhnen der Maschinen ist daneben fast nicht zu hören, eher zu fühlen. Die Luft ist von feinem Staub und Rauch erfüllt, dem eigenartigen Aroma, das man an sehr heißen Tagen, wenn die Eisenbahnschwellen und -schienen bei Onderkuhle unter der Sonne brannten, in der Nähe der Schule spüren konnte. Ratlos irre ich zwischen Fabrikgebäuden und Schuppen hin und her. Mir ist dies eine völlig fremde Welt, deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit mir aber schnell einleuchtet.