noch mitten im Brande, atmet alles auf, als sei das Schwerste vorbei, alles gerettet, der Schaden nicht zu groß. Die Menschen haben sich aus dem nächsten Umkreis der wie mit großen Flügeln rauschenden Flamme zurückgezogen.
Ich stehe eben im Begriff, den Herzog bei dem Kommando an der Feuerspritze abzulösen, als er die Jungen, die ihm formell anvertraut sind, überzählt. Lange will die Zahl nicht stimmen, da ein paar Jungen, an Kopfschmerzen von den Feuergasen leidend, sich in die kühlen Wiesen hinter dem Hause geflüchtet haben und nur mürrisch aufstehen, um sich zu melden. Sehr sonderbar ist es, daß keiner von ihnen in das Hauptgebäude einen Schritt machen will, etwa um etwas von den Habseligkeiten oder Andenken zu retten. Und bis zu dieser Zeit war das große Haus frei von Feuer, die Treppen und Korridore waren noch ohne Gefahr zu betreten. Aber sie denken gar nicht daran, sondern lassen, besonders die jüngeren, die blassen Köpfe wie geknickte Blumen hängen.
Auf dem Rasen beim Tennisplatze wälzt sich krampfhaft schluchzend und sein morsches Gewand zerreißend, der unverwüstliche Beamte, der Rendant. Ich stopfe ihm den Mund, der von Gebeten und Selbstanklagen überquillt, und heiße ihn um seiner Kinder willen schweigen. Aber er ist taub, nichts rührt ihn, bis ich mich der Namen seiner Kinder (oder wenigstens eines Teils derselben) erinnere und ihm »Jeannette, Paul, Chéri!« ins Ohr brülle; jetzt endlich schweigt er und fährt mit dem Finger wie von Sinnen in die Löcher seines abgeschabten Habits, die er sich selbst gerissen hat. Es ist düster und dunkel, obwohl noch nicht Dämmerstunde. Ein Gewitter scheint auf dem Wege, der Himmel, gegen den die wüsten Flammen schlagen, hebt sich wie mit fahlem gelbem Fell gefüttert von der Schule ab.
Daß die Menschen und Tiere glücklich gerettet sind, das macht mich stolz. Vermessen möchte ich mein Eindringen in das brennende Gebäude noch einmal wiederholen, aller Gefahr ungeachtet, trotz der immer brütenden Angst vor dem T. Der Traum, der Brand im Traum der letzten Nacht war düsterer. Er endete schlecht, ich weiß es. In diesem Augenblick ruft mich der Herzog. In seinem Gesicht nehme ich mit Schrecken mitten durch seinen grünlichgelben Gallenteint eine tiefe Blässe wahr. Er befiehlt mich mit seiner eigenartigen Handbewegung zu sich. »Wo ist der Junge?« fragt er leise. Ich antworte zwar: »Welcher Junge?«, weiß aber sofort genau, wen er meint. Und jetzt endlich sind schreckensvoll Traum und Wirklichkeit eins geworden. Ich habe den kleinen Alma im Fechtzimmer eingeschlossen. Ich habe dies vergessen. Wer in mir hat das vergessen? Der Lebenshungrige? Der Todesfürchtige? Ich breche zusammen. Der schwere Schlüssel in meiner Hosentasche zerquetscht meinen Körper, aber dieser Schmerz ist nichts gegen mein Gefühl in diesem Augenblick, als ich fallend mit den Knien die spitzen Steine im Hof berühre.
Prinz Piggy, mein alter Feind, reißt mich, empor. Titurel steht mit seinem kalten, bösen Lächeln daneben. Der Herzog preßt seine Lippen zusammen, bis aus ihnen alle Farbe weicht. Er nimmt mich an der Hand, zwingt mich durch seinen Blick, den Schlüssel hervorzuholen, und sagt halblaut zu mir, wie er heute morgen, heute vormittag dem armen Alma gesagt hat: »Hopp! Vorwärts!« Er schleift mich durch schon ganz verlassene, betäubend heiße Plätze, die ich im hochlodernden Flammenschein nicht mehr richtig erkenne. Sollte es hier sein, wo ich so viele Jahre gelebt habe und von heute an nicht mehr leben werde?
Schon stehen wir vor dem Portal des Hauptgebäudes. Ich blicke zu dem Fenster empor, hinter dem Alma gefangen sitzt. Weshalb reißt er den Fensterflügel nicht auf? Weshalb hat er nicht schon längst um Hilfe gerufen? Eine hämische, eine tückische Stimme in mir will das so deuten, als hätte er sich »durch das Blut Christi und die Gnade Gottes«, die ich sonst immer bezweifelt habe, dennoch gerettet, durch verschlossene Türen hindurch. Aber die andere Stimme, die lebensmutige, sagt mir, daß mir die Probe nicht erspart wird, daß unser armer Alma eingeschlafen ist, von der Hitze betäubt, daß er in Ohnmacht auf seiner Bank liegen muß und daß, wenn wir nicht kommen, seine Augenblicke gezählt sind. Denn schon rieselt zu unsern Füßen schwerer Rauch umher. Was soll nun bei mir entscheiden? Ich weiß, was sein muß, aber ich kann es nicht! Aus der Ferne kommt das Glockensignal der Feuerwehr der Nachbarstadt. Die Glocke auf ihrem Wagen ähnelt im Klang der Schelle der Milchhändler, die mich als schlafendes Kind auf dem halbmondförmigen Sofa geweckt und von dem Nachtschrecken befreit hat. Ist ja nur ein Traum, sage ich mir. Keine Angst! Ein Traum mehr zu den andern, und von jetzt an, nach diesem letzten Schritt, den Träumen abgesagt! Los! Vorwärts, beherrsche dich! Hast du keinen Funken Courage? Immer schwerer wird die Wolke um uns, sie reicht schon an die Schultern, und immer giftiger wird ihr Hauch. »Es muß sein«, sage ich laut. »Los!« Die Feigheit ist gefährlicher als der Mut. Aber nun flüstert das andere, klügere, erbärmlichere Ich: Sind denn keine andern hier? Du mußt dich den Deinen erhalten! Dein Vater stirbt, wenn du zugrunde gehst. Sollen zwei Menschen sterben? Ist denn eine Rettung überhaupt logisch möglich? Entweder ist Alma schon erstickt, oder er hat sich gerettet. Ruhig im dunklen Zimmer sitzend wird er nicht sein Ende herangewartet haben. Dann wieder: Es muß sein!! Denn wer sonst soll es sein, der es wagt? Aber ich zittere, ich bin wie nasses Werg. Meine Lippen formen gegen meinen Willen oder nur mit dem Willen des einen Ich das Wort: »Entschuldigung!« Ratlos wanke ich, während meinen Körper eisiger Schweiß umhüllt, zitternd in der sausenden Flammenglut. Der Wind ist heute stürmischer denn je. Ich zittere, denn ich habe Angst. Angst beschreibt man nicht, Furcht wie diese erlebt man nur.
Nun stehen wir alle, von Aschestäubchen heiß überrieselt, mit den schützenden Händen über den Augen, im Hofe. Totenstille mitten im Sausen des Brandes. Selbst die Glocken der Feuerwehr sind verstummt…
Ich wende mich zu dem Herzog. Ich halte den Schlüssel in der Hand. Auf dessen blanker, eisengrauer Oberfläche schimmert das erste düstere Gold des Brandes. Ich spreche nichts. Auch der Herzog schweigt, und sein Schweigen ist der Beweis, daß auch er nicht Mut genug hat. Aber ich? Das unwillkürliche Zittern meines Körpers, das Senken meines Kopfes, von dem die Kappe herabgefallen ist, sagt dies nicht alles? Schneller als wir beide, der Herzog und ich, hat sich der Prinz entschlossen. Er reißt mir den Schlüssel aus der Hand. Er spuckt wiederholt in sein Taschentuch, er hält es wie eine Maske vor sein weißes fettes Gesicht. Er drückt seine marmeladefarbigen kleinen Augen etwas zusammen und fliegt so schnell die Treppe empor, daß es aussieht, als wehe ihn der Wind, einem Stückchen hechtgrauen Papieres gleich, über die Stufen.
Wütend schnauben und stampfen große, fahle, schweißgetränkte Gäule mit geifernden Mäulern neben mir, die Feuerwehr aus V., die Fabrikwehr. Der erste Strahl ihrer keineswegs gigantischen Feuerspritze geht auf das Fenster im dritten Stockwerk, das eben klirrend von einem Rapier durchstoßen wird und in dem sich der Kopf des Prinzen und etwas Weißes, offenbar Almas Oberkörper im weißen Hemd, zeigen.
Kapitel Einundzwanzig
Aber schon eine Sekunde später sind sie verschwunden. Atemlos starrt alles empor. Die Dampffeuerspritze, nur allmählich zu ihrer ganzen Wirksamkeit gelangend, beginnt rhythmisch zu arbeiten und hohe Dampfwolken, die sich in den feuerbeglänzten Kronen unserer schönen Bäume verfangen, auszustoßen. Aber nichts von Bäumen. Nur das Feuer beherrscht alles. Dumpf rumort es im Innern der Schule, als würden schwere Möbel oder Kisten die Treppe herabgerollt, und mit einem Male donnert es dröhnend aus dem Innern, man sieht feurige Massen sich auf die steinernen Treppenstufen ergießen, die wir Jahr für Jahr, Tag für Tag bestiegen haben. Wie sollen die unseligen Kameraden zurück? War alles vergeblich? Umsonst der Heldenmut des tapferen Piggy, des wahren Mannes, des richtigen Helden?
Jetzt zeigt sich zum zweiten Male das Köpfchen des Alma, um das sich der Arm des Prinzen schlingt – in einer vorsorgenden, beruhigenden Geste, nicht anders, als mein lieber Vater vor sieben Jahren seinen Arm um meinen Knabenhals geschlungen hat, wenn wir beide aus dem Fenster des Salons unserer Wohnung in Brüssel der Fronleichnamsprozession zusahen, vorn der Erzbischof, der Hof …
Vergebens will ich mich in diesem furchtbaren Augenblick an die Vergangenheit klammern, will nicht glauben, was ich doch vor mir sehe, will nicht einstimmen in das schrille Rufen und Heulen der Menschen ringsum, die den beiden unseligen Knaben oben zuwinken und sie auffordern, ruhig zu bleiben, nicht zu verzagen – sie alle nicht minder feig und erbärmlich als ich. Aber sie sind keine Orlamünde, Orlamünde bin ich allein. Auch ich winke, ich, der Feigste, ihnen hinauf mit meinen Handschuhen, den alten weißen, die an manchen Stellen des Handrückens schwarze,