rechten Seite getretenen Freistoß düpieren. Nach Igor Tschislenkos Ausgleich überwand Eladio Rojas Jaschin mit einem Weitschuss. Zwar hatte Walentin Iwanow den Ball zuvor beim Spielaufbau dilettantisch verloren, aber Jaschin nahm die Schuld auf sich, obwohl der Schrägschuss ganz knapp neben dem Pfosten ins Tor flog. „Es war nur ein sowjetischer Journalist vor Ort, von der Nachrichtenagentur APN“, sagte Jaschin. „Der hatte keine Ahnung vom Fußball und machte mich zum Sündenbock. Als ich zurück in die UdSSR kam, wurde ich dort als Schuldiger für unsere Niederlage empfangen. Ich war so wütend, dass ich ans Aufhören dachte.“
Walentina kann sich noch gut an die Feindseligkeit erinnern, die ihrem Ehemann selbst bei Heimspielen entgegenschlug. „Die Zuschauer pfiffen und brüllten alles Mögliche“, sagte sie. „Das ging zwei oder drei Spiele so. Zu der Zeit gab es kein Fernsehen in Russland, und so stammten alle Informationen, die die Leute hatten, von diesem APN-Journalisten. Wegen dem dachten alle: ‚Jaschin hat die WM verspielt.’ Zwei Mal sind unsere Fenster eingeworfen worden, auch wenn ich nicht weiß, ob das damit etwas zu tun hatte. Unter unserem Fenster stand eine Straßenlaterne, also haben vielleicht auch Rowdys mit Steinen darauf geworfen und stattdessen die Fenster getroffen. Und manche Leute haben entsetzliche Dinge über Lew in den Staub auf unserem Auto geschrieben.“
Wenn man bedenkt, welch großartige Leistungen er vor dem Turnier gebracht hatte, wirkt die überwältigende Wut gegen Jaschin unverständlich – selbst wenn er hier ein einziges Mal einen Fehler gemacht hatte. Gleichzeitig zeigt es, wie leicht das Ansehen eines Torwarts Schaden nehmen kann. „Das passiert ja nicht nur im Fußball“, fuhr Walentina fort. „Anderswo sind wir ja genauso. Einer muss die Schuld kriegen, wenn etwas schiefgeht. Die Bosse ganz oben wollten um die Strafe herumkommen, also haben sie die Schuld auf Jaschin geschoben.“
France Football deutete außerdem an, dass es vielleicht an der Zeit sei, dass Jaschin seine Karriere beendete. Egal, ob die Schuldzuweisungen berechtigt waren oder nicht, er jedenfalls entschied sich fürs Weitermachen. „Er kannte genau wie jeder Mensch Phasen großen Zweifels, der Unsicherheit und Schwäche“, sagte Jakuschin. „Gleichzeitig hat sein Verantwortungsgefühl für die Mannschaft seine tapfere, starke Seite hervorgebracht.“ Eine Weile trainierte Jaschin nicht. Unterstützung bekam er von Dynamos Trainer Alexander Ponomarew. Der sagte zu Jaschin, er solle Russland mal eine Zeit lang verlassen und angeln gehen. Als Jaschin wieder da war, trainierte er mit der Reserve und kehrte erst in der Folgesaison in die erste Mannschaft zurück.
Wie sich zeigen sollte, hatte er alles richtig gemacht: 1963 wurde seine wohl beste Saison. In 27 Ligaspielen kassierte er gerade einmal sechs Tore. International wurde er noch berühmter durch seine hervorragende Leistung in der Partie anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Football Association, in der in Wembley eine Weltauswahl gegen England antrat. Die Begegnung überzeugte den sowjetischen Nationaltrainer Konstantin Beskow, ihn in die Nationalmannschaft zurückzuholen. Im Jahr darauf hielt Jaschin einen Strafstoß von Sandro Mazzola in einem EM-Qualifikationsspiel gegen Italien – einen von ungefähr 150 gehaltenen Strafstößen in seiner Karriere – und wurde zu „Europas Fußballer des Jahres“ ernannt. Er ist der einzige Torwart, der jemals diese Auszeichnung erhielt.
Bei der Weltmeisterschaft 1966 spielte er erneut erstklassig, insbesondere im Viertelfinale gegen Ungarn, das im Roker Park in Sunderland stattfand. Obwohl er bereits 1967 seinen Abschied aus der Nationalmannschaft verkündet hatte, wurde er in den Kader für die WM 1970 in Mexiko berufen, wo er als Ersatztorwart und allgemeiner Berater diente. Noch kurz vor seinem 40. Geburtstag präsentierte er sich bei Dynamo in prächtiger Form und ließ in seinen ersten zehn Saison-spielen nur ein Tor zu. Kurz nach der Rückkehr aus Mexiko beendete er seine Karriere und absolvierte am 30. August 1970 sein letztes Meisterschaftsspiel, 20 Jahre und 59 Tage nach seinem ersten. Auch wenn Statistiken im Fußball nicht unbedingt sehr aussagekräftig sind, sind die von Jaschin doch so erstaunlich, dass sich ein Blick darauf lohnt. So absolvierte Jaschin für Dynamo Moskau und die UdSSR insgesamt 438 Spiele. Beide Teams waren zwar erfolgreich, aber nicht übermäßig. Umso erstaunlicher ist es, dass Jaschin 209-mal, also in 48 Prozent seiner Spiele, zu null spielte.
Lew Jaschin (2.v.l.) wird als „Europas Fußballer des Jahres“ ausgezeichnet. Kein anderer Torhüter erhielt je diesen Preis.
Im Mai 1971 streifte Jaschin das dunkle Jersey noch einmal über für ein Abschiedsspiel zwischen einer Weltauswahl mit Gerd Müller, Dragan Džajić und Christo Bonew und einer Elf der landesweiten Sportgemeinschaft Dynamo. Unnötig zu erwähnen, dass er noch nicht bezwungen worden war, als er in der 52. Minute unter bewegenden Beifallsbekundungen ausgewechselt wurde. Anschließend arbeitete er als Vorstand bei Dynamo Moskau, verbrachte aber den Großteil seines Ruhestands mit Angeln. „Ich kann mir zum Ausspannen nichts Schöneres vorstellen, als mit der Rute in der Hand draußen auf einem See oder in der Marsch zu sein“, sagte er. Jaschins mutige Spielweise forderte nun allerdings ihren Tribut. Die regelmäßigen Schläge auf die Beine hatten innere Schäden verursacht. 1984 erkrankte er bei einer Reise mit der sowjetischen Altherrenmannschaft in Budapest, und ihm musste das rechte Bein amputiert werden. Dass er starker Raucher war, machte die Sache nicht besser. 1990, sechs Monate nach seinem 60. Geburtstag, ist Lew Jaschin gestorben. Doch seine Legende lebt weiter.
Es gab die Vorgänger Jaschins, und es gibt seine Nachfolger. Der Jaschin der 1980er Jahre war Rinat Dassajew, der 1957 im südrussischen Astrachan geboren wurde. Er ist, direkt hinter Jaschin, vermutlich der zweitgrößte russische Torhüter aller Zeiten und sicherlich der größte tatarische Fußballer überhaupt. Er nahm an drei Weltmeisterschaften teil, gewann Bronze bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau und wurde Zweiter bei der EM 1988 in Deutschland. Zwischen 1979 und 1990 brachte er es auf 91 Länderspiele. Nur Oleh Blochin hat mehr Spiele für die Sowjetunion absolviert.
Seine größten Spiele waren aus seiner eigenen Sicht die 1:2-Niederlage gegen Brasilien in der Gruppenphase der WM 1982 und der 1:0-Sieg gegen die Niederlande in der Gruppenphase der EM 1988 (die Niederländer besiegten die Sowjets im Finale mit 2:0). „‘82 war die erste Weltmeisterschaft für mich“, sagte er. „Ich habe eine DVD und gucke sie mir immer mal wieder an. Ich kann mich noch an jeden einzelnen Moment des Spiels erinnern, und ich glaube nach wie vor, dass ich beide Tore hätte verhindern können, wenn ich eine Hand und nicht beide benutzt hätte.“
Dassajew war auch ein Schlüsselspieler in der starken Mannschaft von Spartak Moskau in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, die zwei Meisterschaften holte und dabei eine schnelle, attraktive Spielweise mit Kurzpässen und ständigen Positionswechseln pflegte. Sechsmal wurde er sowjetischer Torhüter des Jahres, und man nannte ihn den „Eisernen Vorhang“. Nach dem Ende des Kommunismus gehörte er zu den ersten Spielern, die die neue Reisefreiheit nutzten, und wechselte 1990 für eine Transfersumme von damals umgerechnet gut vier Millionen Mark zum FC Sevilla. „Als ich zu Sevilla kam, war ich 31“, sagte er. „Aber ich kam mir vor wie ein Teenager, weil ich nicht ausdrücken konnte, was ich wollte oder was ich von anderen Spielern wollte. Ich hielt mich von der Mannschaft fern. Das lag an meinen fehlenden Sprachkenntnissen.“
Und so enttäuschte Dassajew gegen Ende seiner Karriere in Spanien. Er hatte schon bei der WM 1990 in Italien untypische Schwächen gezeigt. Nun musste er sich regelmäßig mit dem Status des vierten Ausländers begnügen, waren damals im spanischen Fußball doch nur drei erlaubt. 1994 lief sein Vertrag aus. Danach entschied er sich, in Spanien zu bleiben, auch wenn er nicht wirklich die Qualifikationen besaß, einen Arbeitsplatz zu finden. „Meine Frau ist aus Sevilla, und wir haben dort viele Freunde“, sagte er. „Ich fahre oft dorthin. Sevilla ist meine zweite Heimat. Dort gehöre ich dazu.“ Einige Jahre lang schien Dassajew verschwunden zu sein, bis ihn die Zeitung Komsomolskaja Prawda aufspürte. Sie berichtete, dass er mittlerweile in Armut lebte. Man überredete ihn, nach Russland zurückzukommen, wo man ihn als Helden empfing.
Dassajew erkannte das Land kaum wieder. „Ich habe ja selbst nicht miterlebt, was da alles passiert ist“, sagte er über die radikalen Veränderungen nach