Jonathan Wilson

Outsider


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      Wratar bereitete den Boden für Jaschin. Doch bevor er in Erscheinung trat, gab es noch einen Vorgänger aus dem echten Leben – einen Torwart, von dem viele bis heute meinen, er sei der beste, den Russland jemals hervorgebracht hat, und der bei Dynamo Moskau so unumstritten war, dass sein Vertreter Jaschin sich beinahe vom Fußball verabschiedet und aufs Eishockey konzentriert hätte. Sein Name war Alexei Chomitsch.

      Chomitschs Qualitäten als Torhüter wurden erstmals offenbar, als er während des Zweiten Weltkriegs seinen Armeedienst im Iran absolvierte. Auch wenn er nur 1,73 Meter maß, was selbst zur damaligen Zeit klein für einen Torwart war, besaß er eine gewaltige Sprungkraft, weshalb ihn die Offiziere „Tiger“ nannten. Chomitsch war sehr sportlich und auch ein hervorragender Turner, Schwimmer und Turmspringer, zudem spielte er auf sehr ordentlichem Niveau Volleyball und Schach. Er arbeitete hart an seiner Leistung und widmete sich voll und ganz dem Training, dachte aber auch über das Spiel nach und entwickelte unter anderem neue Varianten für den Abwurf von hinten heraus.

      Chomitsch war 25 Jahre alt, als er sein Debüt bei Dynamo gab, galt aber schon bald als bester Torhüter des Landes. Auch wenn er allgemein als zurückhaltend, ja fast schon introvertiert beschrieben wird, besaß er doch einen gewissen Charme. Auf Dynamos Gastspieltournee durch Großbritannien 1945 wurde er zur Kultfigur, ungeachtet eines Fauxpas beim Willkommensempfang für die Mannschaft in London. Wegen eines Films über die Geliebte von Lord Nelson, der sich im damaligen Moskau gerade großer Beliebtheit erfreute, geriet er etwas durcheinander und begann seine Rede mit den Worten „Meine Damen und Hamiltons …“. Doch sein Können als Torwart hinterließ Eindruck. „Er ist ständig in Bewegung, sehr behände, schwer zu überwinden“, sagte Chelseas damaliger Trainer Billy Birrell.

      So sehr wurde Chomitsch verehrt, dass der Daily Express anlässlich einer Tour der Glasgow Rangers durch Russland Anfang der 1960er Jahre den Journalisten James Sanderson bat, ihn zu interviewen. Nach einem halbherzigen Versuch, Chomitsch aufzuspüren, steckte Sanderson dessen Honorar in die eigene Tasche und dachte sich den Artikel einfach aus. Danach terrorisierten ihn wochenlang Rangers-Spieler mit Telefonanrufen, in denen sie sich als sowjetische Funktionäre ausgaben und rechtliche Schritte wegen der falschen Darstellung eines Genossen androhten. Da war Chomitsch allerdings längst ersetzt worden, sowohl bei Dynamo als auch in der öffentlichen Gunst – nämlich durch Jaschin.

      

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      Jaschin wurde 1929, neun Jahre nach Chomitsch, geboren. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter an Tuberkulose. Fünf Jahre später marschierte Deutschland in die UdSSR ein. So kam es, dass er neben der Schule auch seinen Beitrag zum Krieg leisten musste. Gemeinsam mit seinem Vater arbeitete er in einer Fabrik, die im Militärproduktionskomplex Krasnij Bogatir (Roter Held) in Tuschono nahe Moskau Flugzeugteile herstellte. Schon damals legte Jaschin die Großzügigkeit und Bescheidenheit an den Tag, für die er später so bekannt werden sollte – sagt zumindest Walentina. „Die zweite Frau seines Vaters erzählte mir, dass er während des Krieges immer einen Jungen namens Isja mit nach Hause brachte, der mit einer großen Familie in Mietskasernen in der Nähe wohnte. Lew erzählte ihr, dass sie nichts zu essen hätten, und da haben sein Vater und seine Stiefmutter ihn durchgefüttert. Einmal hat er seinen Pullover ausgezogen und Isja gegeben. Seinen Eltern hat er gesagt: ‚Die haben so viele Kinder in ihrer Familie, und die haben nichts anzuziehen.‘“

      Nicht, dass Jaschins Familie besonders wohlhabend gewesen wäre. Vielmehr bekam er durch die schlechte Qualität der Lebensmittel, die er damals aß, ein Magengeschwür. Mit 16 Jahren wurde er für eine Weile zur Kur ans Schwarze Meer geschickt. „Das harte Training tat das Seine dazu, vor allem, weil Lew wie ein Verrückter arbeitete. In seiner ganzen Karriere ist er nie zu spät zum Training gekommen. Er war immer pünktlich und forderte das Gleiche auch von anderen. Nach jeder Trainingseinheit blieb er im Tor und bat jemanden, Schüsse auf ihn abzugeben. Ich habe mir das einmal angeguckt und konnte danach nie wieder dabei zusehen. 30 oder 40 von den ganz harten Schüssen hat mein Mann in seinen Bauch bekommen. Mir kam es so vor, als wenn seine komplette Bauchhöhle herausgeprügelt würde. Lew erklärte mir, dass seine Bauchmuskeln sehr stark seien und er den Ball ohnehin mit seinen Händen abgefangen hätte, der Ball also seinen Bauch gar nicht berührt hatte. Aber ich habe gesehen, dass er das sehr wohl tat.

      Nach einem Sieg bin ich mal Jakuschin im Savoy-Restaurant begegnet. Er rief mich zu sich und fragte, ob sich Lew über ihn beklagt hätte. Ich sagte Nein und fragte, was denn passiert sei. ‚Ich glaube, er war verletzt’, sagte Jakuschin. ‚Er hat beim Training vor dem Spiel gesagt, dass er Bauchschmerzen habe und sich nicht nach dem Ball werfen kann, aber ich habe ihn aufgefordert, es einmal zu tun. Er ist kaum wieder hochgekommen und ist im Schneckentempo in die Kabine zurückgekehrt. Aber am nächsten Tag ist er wieder ganz normal gesprungen und gehechtet […]‘.

      Er hatte ständig Magenschmerzen – und am Ende ist er ja an Magenkrebs gestorben. Weil sein Magen sehr viel Säure produzierte, trug er stets Natron bei sich und, wenn möglich, auch Wasser. Sein Sodbrennen war sehr stark – wenn er kein Wasser hatte, konnte er nicht davon ausgehen, schnell genug einen Becher Wasser zu finden, um einen Teelöffel Natron darin aufzulösen. Manchmal hat er das Natron aus einem Papierbeutel in seine Handfläche geschüttet, direkt in den Mund getan und sich dann verzweifelt nach etwas Flüssigem umgeschaut, mit dem er es runterschlucken konnte.“

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      Erst 1944, als nach dreijähriger Unterbrechung wieder Fußball in Moskau gespielt wurde, begann Jaschin, sich ernsthaft dieser Sportart zu widmen, und versuchte sich bei der Werksmannschaft. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsmänner war er nicht versessen darauf, im Tor zu stehen. „Wie alle Kinder in Moskau hatte auch ich zunächst auf der Straße gekickt“, sagte er. „Meine frühesten Erinnerungen sind die an verrückte Spiele. Ich hätte wirklich gerne als Stürmer gespielt, weil ich es liebte, Tore zu schießen, aber wegen meiner Größe und Sprungkraft war ich dazu bestimmt, Torwart zu sein. Die Chefs der Mannschaft haben mir diese Entscheidung aufgedrückt.“

      Als Jaschin 1947 zum Wehrdienst einberufen wurde, stationierte man ihn in Moskau. Nachdem er dort auf seiner neuen Position gleich vielversprechende Auftritte gezeigt hatte, begann er, für den Dynamo Sportklub in der Stadtratsmeisterschaft zu spielen. Im Juli 1949 fiel er Arkadi Tschernischew auf, dem später weltweit bekannten Eishockey-trainer. Der lud ihn ein, sich der Jugendabteilung von Dynamo Moskau anzuschließen. Im Herbst des gleichen Jahres sorgte Dynamos Nachwuchsmannschaft dann für helle Aufregung, als sie die eigene Herrenmannschaft – inklusive Chomitsch – im Halbfinale des Moskauer Pokals mit 1:0 besiegte. Jaschins gute Leistung fiel auf, und im darauffolgenden März wurde er anlässlich einer Tour durch den Kaukasus in die Herrenmannschaft befördert. Dort war er zunächst Reservespieler für Chomitsch und dessen üblichen Vertreter Walter Sanaja.

      

      Bei einem Freundschaftsspiel gegen Traktor Stalingrad (heute Rotor Wolgograd) im Jahr 1950 erhielt er seine Chance, doch es hätte kaum schlechter laufen können. Er erlebte eine dieser Situationen, die einem Torhüter die ganze Karriere über nachhängen können. Ein starker Wind trug einen langen Befreiungsschlag des gegnerischen Keepers bis in seinen Strafraum. Jaschin kam heraus, um den Ball abzufangen. Die Augen nur auf den Ball gerichtet, bemerkte er jedoch seinen Verteidiger Jewgeni Awerianow nicht, der zur Kopfballabwehr heranstürmte. Die beiden prallten zusammen, gingen zu Boden, und der Ball hüpfte ins Netz. Jaschin erinnerte sich später zurück, wie er auf dem Boden lag und erleben musste, wie berühmte Mannschaftskameraden wie Konstantin Beskow und Wassili Karzew ihn auslachten. „Ich hörte, wie sie fragten, wo um alles auf der Welt man diesen Torwart aufgetrieben hätte“, sagte er.

      Jaschins erstes Pflichtspiel am 2. Juli des gleichen Jahres lief kaum besser. Dynamo führte eine Viertelstunde vor dem Ende mit 1:0 gegen Spartak, als Chomitsch sich verletzte. Also wurde Jaschin für ihn eingewechselt. Drei Minuten vor dem Abpfiff schlug Alexei Paramonow eine Flanke in den Strafraum. Jaschin ging hin, stieß wiederum mit einem Verteidiger