Jonathan Wilson

Outsider


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der Sowjetunion, also in einer Uniformität verlangenden kommunistischen Gesellschaft, war die Individualität und das Außenseitertum des Torhüters natürlich etwas Besonderes. Der Gedanke liegt nahe, dass das Torhüten eine der seltenen Möglichkeiten bot, die eigene Individualität zum Ausdruck zu bringen, losgelöst vom Kollektiv, und dass genau deshalb diese Position so beliebt war. Aber auch wenn daran etwas dran ist, war Jaschin doch kein Dissident, und das Torwartspiel besaß auch schon vor der Revolution von 1917 eine herausgehobene Stellung in Russland.

      Wladimir Nabokow, 1899 in St. Petersburg in eine Aristokratenfamilie hineingeboren und nach der Revolution aus Russland geflohen, schrieb in seiner Autobiografie Erinnerung, sprich, dass er als junger Mann „mit Begeisterung Torwart“ gewesen sei. Tatsächlich scheint Fußball zu den wenigen Dingen zu gehören, an die er sich im Zusammenhang mit seinem Studium in Cambridge unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg noch gut erinnern konnte. Es gab die „hellen, heldischen Tage“, an denen ihm „die geglückte Abwehr“ gelang und deren „lange anhaltendes Prickeln“ er in seinen Handflächen spürte. Doch es gab auch die Partien unter „trostlosem Himmel“, wenn „der Boden um das Tor herum zu schwarzem Schlamm aufgeweicht war, der Ball fettig wie ein Plumpudding“, wenn sich der Nebel sammelte und „die ramponierten Krähen“ um eine „entblätterte Ulme“ krächzten und er „den Ball glücklos verfehlte“. In seiner Vorliebe für die Position sah sich Nabokow als typisch für sein Land. Er schrieb:

      In Russland und in den romanischen Ländern ist jene Kunst immer von der Aura eines beispiellosen Glanzes umgeben gewesen. Erhaben, einsam, unbeteiligt, so schreitet der Held des Fußballtores durch die Straßen, verfolgt von hingerissenen kleinen Jungs. Er wetteifert mit dem Matador und Flieger-Ass als ein Gegenstand verzückter Verehrung. Sein Pullover, seine Schirmmütze, seine Knieschoner, seine Handschuhe, die aus der Gesäßtasche seiner kurzen Hosen ragen, heben ihn von der übrigen Mannschaft ab. Er ist der einsame Adler, der Geheimnisvolle, der letzte Verteidiger. Fotografen, ein Knie ehrwürdig gebeugt, knipsen ihn, wenn er sich mit einem spektakulären Kopfsprung quer über die Öffnung des Tores wirft, um mit den Fingerspitzen einen niedrigen, blitzartigen Schuss abzuwehren, und beifällig brüllt das ganze Stadion, während er in dem unversehrten Tor noch einen Augenblick der Länge nach liegenbleibt, wie er fiel.“

      Die englische Mentalität kam dem Torhüter laut Nabokow nicht gerade zugute: „Der nationale Horror vor aller Angeberei und eine zu humorlose Vorliebe für solide Teamarbeit [waren] der Entwicklung der exzentrischen Art des Torwarts immer abträglich.“ Umso bemerkenswerter ist es, dass so viele der begabten britischen Torhüter der Anfangsjahre oft ganz bewusst ein besonders skurriles Verhalten an den Tag legten.

      Die russische Liebe zum Torhüter zeigte sich auch am Erfolg des Filmes Wratar, einem Singspiel unter der Regie von Semjon Timoschenko. Hauptdarsteller war der russische Leinwandbeau Grigori Pluschnik in der Rolle des Anton Kandidow. Kandidow verdient sich sein Geld damit, Wassermelonen auf einen Karren zu stapeln. Er ist so gut darin, die herunterfallenden Melonen aufzufangen, dass er einem Talentspäher auffällt, der ihn in seine Mannschaft holt. Der Höhepunkt des Films ist schließlich, wie Kandidow nach einer Reihe von Glanzparaden gegen eine tourende baskische Mannschaft über den gesamten Platz rennt und in der letzten Minute das Siegtor schießt. Für den Fall, dass jemand die politische Botschaft dahinter nicht verstand, hieß es in dem bekanntesten Lied des Films: „Hey, Keeper, mach dich bereit für den Kampf. / Du bist der Wachposten im Tor. / Stell dir vor, hinter dir ist eine Grenze.“

      Der Film basierte auf Lew Kassils 1936 erschienenem Roman Wratar Respubliki („Der Torwart der Republik“), der wesentlich düsterer ist als das Singspiel. In dem Buch schließt sich der riesengroße, „impulsive“ Kandidow der Gemeinde Gidraer an, um in ihrer Fußballmannschaft im Tor zu spielen. Dann aber geht er zu dem namhafteren Team von Magneto, das bald zu einer Reise durch Europa aufbricht. Dort wird er von seinen neuen Freunden und fremden Einflüssen verdorben. Nach seiner Rückkehr verliert Magneto gegen Gidraer, „wegen ihres fehlenden Zusammenhalts und vor allem wegen Kandidows unüberlegter, individualistischer Entscheidung, seinen Platz zwischen den Pfosten in einem entscheidenden Spielmoment zu verlassen“, wie Keith A. Livers in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift The Russian Review feststellte. Tief beschämt geht Kandidow in sich und bringt sich versehentlich beinahe um, als er seinen Gashahn nicht abdreht. Doch am Ende kehrt er wieder zu Gidraer zurück. Im Kern ist das Ganze eine kommunistische Variante der Parabel vom verlorenen Sohn. Auch hier ist die politische Botschaft eindeutig, und auch hier ist es offenkundig von großer Bedeutung, dass der Torhüter der Ausgestoßene, der Alleingelassene ist, der wieder eingegliedert werden muss, um sich seine Erlösung zu verdienen.

      Wratar Respubliki war nicht der erste russische Roman, in dem es um Fußball ging. Den Höhepunkt in Juri Oleschas Roman Zavist, auf Deutsch unter dem Titel Neid erschienen, bildet ein Fußballspiel zwischen einer sowjetischen und einer deutschen Mannschaft. Held der Partie ist Torhüter Wolodja Makarow, dem das Hemd in Fetzen gerissen wird bei seinen Versuchen, dem Angriff der Deutschen zu widerstehen, die in der ersten Halbzeit mit starkem Rückenwind spielen. „Wolodja fing den Ball selbst dann, wenn es mathematisch unmöglich schien. […] Der Schiedsrichter setzte im Laufen die Pfeife an die Lippen, um ein Tor zu pfeifen. […] Wolodja fing den Ball nicht, er riss ihn aus seiner Bahn, und da er gegen die Physik verstieß, musste er sich der betäubenden Wirkung der empörten Naturkräfte unterwerfen. Er flog zusammen mit dem Ball, er drehte sich, er schraubte sich fast auf ihn zu, er nahm den Ball mit dem ganzen Körper, mit Knien, Bauch und Kinn, er warf sein Gewicht der Geschwindigkeit des Balles entgegen, wie wenn man einen Lappen auf einen glimmenden Funken wirft. Die gebremste Geschwindigkeit des Balles schleuderte Wolodja zwei Meter seitwärts, er fiel wie eine Bombe aus Papier.“

      Deutschlands Star Getzke, ein Stürmer, wird als selbstsüchtiger Individualist dargestellt. Demgegenüber ist Wolodja der engagierte Mannschaftsspieler, der Kandidow in Kassils Roman erst noch werden muss. „Wolodja war ein Sportler, der andere ein Berufsspieler. Wolodja war der allgemeine Verlauf des Spiels wichtig, der allgemeine Sieg, der Ausgang –, Getzke strebte nur danach, seine Kunst zu zeigen.“ An anderer Stelle wird Wolodja als der ideale moderne Sowjetmensch charakterisiert. Der gesamte Roman beschäftigt sich mit der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft und zeigt sowohl die Schwächen des kommunistischen wie auch des bürgerlichen Modells auf. Wolodja ist ein Individuum, das für die Mannschaft alles gibt. Es wird deutlich, dass die Position des Torhüters ideal für Einzelgänger ist: Auch wenn der Torhüter immer abseits seiner Mannschaftskameraden steht, ist sein Einsatz, sein Können doch darauf gerichtet, das Beste für das Kollektiv herauszuholen. Damit dient der Torhüter womöglich als Vorbild für alle eigenwilligen Individuen, ja Künstler in einem sozialistischen System.

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      Besonders spannend in Bezug auf Wratar ist die Geschichte von Nykolaj Trussewitsch, des ukrainischen Torwarts, der zumindest teilweise als Vorlage für Kandidow diente. Er war groß und dunkelhaarig und machte sich in den 1930er Jahren, als man erstmals eine Landesmeisterschaft austrug, einen Namen als einer der besten Torhüter der UdSSR. Seine Karriere begann er in Odessa bei Pischtschewik, wechselte 1929 zu Dynamo Odessa und 1935 schließlich zu Dynamo Kiew, der Mannschaft der lokalen Geheimpolizei. Es war das Jahr, in dem Kassil seinen Roman vorbereitete. Dynamo unternahm damals eine Gastspielreise nach Frankreich und hatte gegen die erfahreneren Gegner einige Probleme. Trussewitsch war die zweite Wahl hinter Anton Idzkowski, der jedoch kurz vor einer Partie gegen Red Star Olympique in Paris erkrankte. Man erwartete einen ungefährdeten Sieg von Red Star, doch nach seiner überraschenden Berufung machte Trussewitsch ein ganz großes Spiel, und Dynamo Kiew gewann 6:1 – auch wenn Trussewitsch nicht selbst traf wie Kandidow in Wratar.

      Trussewitsch kehrte als Held zurück. Sein Ansehen nahm dank seiner flotten Kleidung und seines guten Humors noch zu, auch wenn es durch seine gelegentlich etwas impulsive Art etwas beschädigt wurde. Nach einem 9:1-Sieg gegen eine tourende türkische Mannschaft versuchte er beispielsweise, die betretenen Gäste durch den bald so genannten „Tanz des Torhüters“ wieder aufzuheitern. Dazu ahmte er seine Bewegungsabläufe auf dem Platz nach, fiel immer wieder nach vorne und drückte sich dann im letzten Moment mit den Händen wieder nach oben.