Jonathan Wilson

Outsider


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der Frühform des Fußballs in Großbritannien ging es einzig und allein darum, zu dribbeln und Tore zu erzielen. Deren Verhinderung spielte höchstens am Rande eine Rolle. Als man sich Mitte des 19. Jahrhunderts daran machte, einen einheitlichen Regelkatalog zu erstellen, mit dessen Hilfe man Sportler unterschiedlicher Eliteinternate mit ihren jeweils eigenen Varianten des „Fußball“ genannten Spiels zusammenbringen konnte, war von einem Torwart nirgends die Rede.

      Das erste Spiel nach den Regeln der FA bestritten Barnes und Richmond. Es endete mit einem torlosen Unentschieden, obwohl beide Mannschaften mit zwei Hintermännern und neun Angreifern aufs Feld gegangen waren, der damals üblichen taktischen Formation. Nach den frühen Regeln durfte jeder Spieler den Ball mittels eines „Fair Catch“, eines „regelkonformen Fangens“, in die Hand nehmen. Es gab dann Freistoß für den fangenden Spieler, sofern er unmittelbar nach dem Auffangen stehengeblieben war und mit dem Schuh einen sichtbaren Abdruck auf dem Platz hinterlassen hatte. Mit dem Ball in beiden Händen weiterzulaufen oder per Wurf ein Tor zu erzielen, war dagegen unzulässig.

      Damit folgte die FA letztlich nur jahrhundertealten Traditionen. Die von der Shrewsbury School 1858 schriftlich fixierten Regeln und die Sheffielder Regeln von 1857 erlaubten jeweils „fair catches“, erwähnten aber keine Torhüter. Auch die Regeln von Harrow aus dem Jahr 1887 spiegeln wider, wie an dieser Schule seit vielen Jahren Fußball gespielt wurde. „Spiel mit der Hand“ war zulässig, jedoch nur, um den Ball sauber zu fangen. Unmittelbar danach hatte der Spieler „yards“ zu rufen. Damit bekam er das Recht, sich drei Yards, also knappe drei Meter, in eine beliebige Richtung zu bewegen, ohne dabei attackiert zu werden.

      Keines der vielen Spiele, die als Vorläufer des Fußballs betrachtet werden, kannte einen Spieler, der allein ganz hinten blieb. Bei den meisten war es offenbar allen Spielern erlaubt, den Ball mit der Hand zu spielen oder zu fangen. Ihn dann aber weiterzutragen, war dagegen nur bei einigen wenigen zulässig. Bei sämtlichen Varianten lag der Schwerpunkt eindeutig auf dem Angriff und nicht auf der Verteidigung, auch wenn es Varianten gab, bei denen nur ganz selten überhaupt Tore fielen.

      Trotzdem: So klein ihre Zahl und so gering ihre Bedeutung auch gewesen sein mag, es gab Abwehrspieler. Aus diesen muss der Torwart hervorgegangen sein. Beim phaininda und harpastum beispielsweise, also den antiken Spielen der Griechen und Römer mit einem kleinen Ball, die wesentlich mehr mit der aus Cornwall bekannten Variante des Hurling statt mit Fußball zu tun haben, positionierte man langsamere Spieler weiter hinten. Der griechisch-römische Arzt und Philosoph Galen nannte diese Zone den „locus stantium“ – den „Platz der Stehenden“.

      Unser Wissen über beide Spiele ist jedoch begrenzt. Im späten 16. Jahrhundert allerdings hatte ein anderes Ballspiel in Italien und insbesondere in Florenz an Beliebtheit gewonnen, dessen Ursprünge man aus naheliegenden Gründen im harpastum vermuten kann: der calcio. Aus den Regeln, die der florentinische Adelige Giovanni de’ Bardi festgehalten hat, wissen wir, dass die Mannschaften aus 27 Spielern bestanden. Dem 1612 gedruckten Vocabolario della Crusca zufolge waren diese aufgereiht als „15 innanzi o corridori, 5 sconciatori, 4 datori e dietro“, also als 15-5-4-3-Formation, aber ohne Torhüter. Andererseits waren in einem Spiel, bei dem jeder den Ball mit der Hand spielen durfte, in gewissem Sinne natürlich alle Verteidiger Torhüter.

      

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       Calcio im Florenz des 17. Jahrhunderts

      Bevor es überhaupt Torhüter geben konnte, brauchte man natürlich erst einmal Tore. In den Frühformen des Fußballs gab es nur sehr wenig Einhelligkeit darüber, was darunter zu verstehen war. Beim calcio beispielsweise erstreckte sich das Tor an beiden Enden über die komplette Breite des Platzes. Die britische Ausprägung, der direkte Vorläufer des modernen Fußballs, hat hingegen wohl einem kleineren, an beiden Enden jeweils extra abgegrenzten Bereich den Vorzug gegeben.

      So beschrieb etwa Joseph Strutt in seinem 1801 erschienenen Buch Sports and Pastime of the People of England ein entsprechendes Spiel aus Yorkshire: „Spielt man eine Partie Fußball, so besetzt eine gleichmäßige Anzahl von Gegenspielern das Feld und steht zwischen zwei Zielen, welche in einem Abstand von 80 oder 100 Yards voneinander aufgestellt sind. Das Ziel ist für gewöhnlich aus zwei Stäben gemacht, die ungefähr zwei oder drei Fuß voneinander in den Boden gesteckt sind.“ Bei einem dermaßen kleinen Tor bestand natürlich überhaupt keine Notwendigkeit, extra einen Mann zwischen die Pfosten zu stellen. Ganz ähnlich war es beim Eton Wall Game, das auf einem 110 Meter langen und fünf Meter breiten Feld gespielt wurde. Dort waren die Tore extrem schmal: eine Tür am einen Ende und der markierte Bereich einer Ulme am anderen. Auch hier hätte es keinen Sinn ergeben, in den 18 oder 20 Mann starken Teams einen Torhüter zu bestimmen.

      Im Laufe des 19. Jahrhunderts reifte allmählich die Erkenntnis heran, dass die weit hinten verteidigenden Spieler eine besondere Rolle ausfüllten, selbst wenn sie nicht besonders hoch angesehen waren. Zu Zeiten der Römer mochten es die langsamsten Spieler gewesen sein, die hinten spielten. In der Schule des Viktorianischen Zeitalters waren Abwehrleute hingegen diejenigen, denen man weniger körperliche, sondern vielmehr moralische Defizite nachsagte.

      In seinem Buch Football at Westminster School schrieb H. C. Benham über Partien, bei denen die Tore teils etwa elf Meter breit waren und einfach dem Zwischenraum zwischen zwei Bäumen an beiden Enden des Platzes entsprachen. „Die kleinen Jungen, die Nieten und die Schisshasen, das waren die Torleute, zwölf oder 15 an jedem Ende, und diese verteilten sich über jenen breiten Zwischenraum“, schrieb Benham. „Zeigte einer der Kameraden, die im Felde spielten, irgendein Anzeichen von ‚Schiss’ oder ließ es an Tüchtigkeit fehlen, so wurde er augenblicklich in das Tor geschickt, nicht bloß für einen Tag, sondern als dauerhafte Degradierung. Konnte andererseits einer der Torleute ein Tor gut abwehren, so wurde er aufgerufen, unverzüglich draußen zu spielen, und spielte von da an zu jeder Zeit draußen.“ Es ist natürlich alles andere als logisch, dass einer, sobald er sich als guter Torhüter erweist, von da an nicht mehr als Torhüter spielt. Wichtiger noch ist, dass es eine Stigmatisierung bedeutete, im Tor zu spielen. Diese Stigmatisierung gibt es auch heute noch, zumindest in Großbritannien, wenn auch eher unbewusst.

      Die Schulen besaßen allesamt ihre eigenen Regeln, die stark von der Beschaffenheit ihres Platzes abhingen. Das Konzept mit mehreren Torhütern scheint dabei sehr verbreitet gewesen zu sein. Das Book of Rugby School enthält ein Kapitel, das offenbar aus der Feder von W. H. Arnold stammt, dem Bruder von Schuldirektor Thomas Arnold. Es bildete so gut wie sicher die Quelle für das berühmte Spiel, das Thomas Hughes in seinem Buch Tom Brown’s Schooldays beschrieben hat. Darin legt er detailliert dar, wie eine Mannschaft aus 40 Schülern der Oberstufe gegen 460 andere antrat. Davon spielten 260 im Tor.

      

      Es war völlig klar, dass Torwart zu sein eine undankbare Aufgabe war. In seinen Recollections of Schooldays at Harrow, seinen Erinnerungen an die Schulzeit in Harrow, schrieb Reverend H. J. Torre: „Es fiel der Gruppe der kleinen Jungen zu, die ‚Grundlinie’ oder das Tor zu hüten, was eine ungewöhnlich kalte Tätigkeit war, und wenn der Ansturm kam, so fanden sie sich für gewöhnlich auf ihren Hinterteilen im Schmutze wieder.“ Der Schuldirektor Christopher Wordsworth (1836–44) führte die Regel ein, dass niemals mehr als vier Jungen „gleichzeitig ‚die Grundlinie hüten’ [durften], und dieses auch nicht länger als 30 Minuten“.

      Womöglich noch gefährlicher war die Position in Charterhouse. Dort fand Fußball nicht auf einem Rasenplatz, sondern auf einem knapp vier Meter breiten und gut 60 Meter langen Klostergang statt. Auch hier oblag die Verteidigung oder das Hüten des Tores den Fags, den Jungen aus der niedrigsten Klassenstufe. „Recht bald geriet der Ball in einen der Strebepfeiler, woraufhin sich ein ungeheures Gedränge erhob, bei welchem ungefähr 50 oder 60 Jungens sich zusammendrängten und ganz energisch ‚roh einstiegen’, traten und rempelten, um den Ball wieder herauszubekommen“, schrieben E. P. Eardley-Wilmot und E. C. Streatfield in ihrem Werk Charterhouse Old and New. Und weiter:

      Ein geübter Mitspieler, der spürte, dass der Ball sich vor seinen