Die dämmrige Stille stimmte sich die Herzen, und es war, als wage sich kein Laut von den Lippen der wandernden Menschen, denn es war kein Ton in der nebelgrauen Einsamkeit. Selbst ihre Tritte versanken lautlos in dem feuchten Sande des Moordamms, auf den sie nun gelangt waren.
Wie sie fast zwei Stunden schweigend nebeneinander geschritten, während welcher der alte Mann manchmal einen Blick nach den ferne ziehenden Segeln geworfen, und wie sie nur selten die Mauern eines Gehöfts oder das Dach einer einsamen Moorhütte hatten auftauchen sehen, drängten sich nun die steinernen Häuser bis dicht an die breite Strasse heran, auf der sie schon seit geraumer Zeit gewandert waren.
Nicht mehr fern lag der Weyerberg, den die Leute in anderer Zeit, da noch die See über das Moor gegangen sein soll, als Düne gegen die drohenden Wasser errichtet hatten. Jetzt schaute auch der weisse Turm des Kirchleins über die Bäume des Berges hinweg.
„Dorthin wollen wir gehn“, sagte Ham Rugen, „und wenn wir erreicht haben, was ich will und für nötig halte, wollen wir ruhen und wieder zu den Einhäusern zurückwandern.“
Kurze Zeit danach betraten sie das Pfarrhaus neben dem weissen Kirchlein. Ham Rugen redete mit dem greisen Pastor. Er redete auch mit dem Gemeindevorsteher, der auf die Pfarre gebeten worden war.
Wöbke Dierks verstand nicht alles, was die Männer miteinander sprachen. Aber sie nahm wahr, dass von ihr die Rede sei und Ham Rugen wünsche, zum Vormund für das Mädchen bestellt zu werden, da dieses als elternlos zu betrachten sei. Er sagte auch, dass er es nicht für gut halte, wenn Gesche Stelljes die alleinige Fürsorge für das Kind anheimgegeben sei. Manches sprachen die Männer leise.
Dann machten sich die beiden wieder auf den Weg zu den Einhäusern, von denen auch die Rede zwischen Ham Rugen und dem Pastor gewesen war.
Der Gemeindevorsteher sagte, es werde schon alles nach dem Wunsche Ham Rugens in die Wege geleitet werden. Er werde bald ein Schreiben empfangen, aus dem alles zu ersehen sei, was er zu wissen nötig habe. Auch an Gesche Stelljes und ihren Mann werde die Mitteilung gelangen, dass sie sich den Bestimmungen, die Ham Rugen als Vormund von Wöbke Dierks für gut halte, zu fügen haben.
Wie Ham Rugen mit dem Kinde die breite Strasse zurückgelegt, und wie sie auch den Damm entlang gegangen waren, schritten sie wieder über die pfadlose Moorheide.
Ein sanfter Regen hatte zu fallen begonnen. Aber die Stille war noch über den Weiten. Bloss ein leises Zischen war in der Luft — so fein, wie man es nur in der Moorheide vernehmen kann, in der gar kein Laut ist, und in der auch der Fuss so weich schreitet wie nirgend sonst auf einem Wege.
Wöbke Dierks sagte, dieses sanfte Klingen in der Luft müsse wohl entstehen, wenn der rinnende Tau des Himmels sich im Fallen streife.
Überdem waren sie an den Stechpalmbusch gekommen, unter dem Ham Rugen den Strumpf mit dem Gelde verborgen hatte. Er steckte ihn wieder zu sich, und sie gingen ihren Weg zu Ende.
Elftes Kapitel.
Wie drei Jahre vergangen waren, seit Claus Böschen seine Siedelei in das Moor gesetzt, sass Ham Rugen im warmen Licht eines Spätsommertags und hatte die Hände im Schoss gefaltet.
Er hatte die Hose aus Leder, die er, als er noch schmuggelte, von einem Schiffer in der rauchigen Kneipe an der Weser erstanden, über den Knöcheln gebunden. Den Stock, an dem er seit dem letzten Herbst gehen musste, hatte er neben die Bank in den Sand gesteckt. Er liess sich die Stirne von der goldenen Hand der Sonne streicheln und hatte das silberne Haar über den Schläfen nach vorn gestrichen.
Wöbke Dierks kam über den Steg und trug in einem Napf dampfendes Essen herüber. Sie setzte dem alten Mann die Schüssel in den Schoss und sagte:
„Es ist ein süsser Milchbrei, Ham Rugen, und ich hab’ ihn selbst für dich gekocht. Und Wischen lässt dir sagen, du möchtest doch auch einmal zu ihr hinüberkommen, wenn du froh seist, damit du ihr erzählen könnest, solange sie zu Bett liegen müsse. Wischen hört dich gern reden von alten Tagen und von solchen, die erst kommen werden.“
„Ich will zu Wischen Böschen gehn, wenn mir etwas einfällt, davon ich ihr erzählen kann“, sagte Ham Rugen.
Wöbke Dierks sprang rasch zu den drei Kindern hinunter, die nicht weit von den Buschkiefern entfernt in dem warmen Sande sassen und mit den Löffeln Gräben in das Erdreich zogen. Sie hatten auch dürre Stäbchen in den Sand gesteckt und die roten Ähren des Heidekrauts dazu und sagten, das sei ihr Garten.
Als das Mädchen dem einen der Kinder ein Körnlein Sand aus dem Auge gewischt hatte, das ihm hineingeflogen war, erhob der dreijährige Jan Stelljes die Hand, die den Löffel hielt, und wollte nach Wöbke Dierks schlagen. Die sah das Kind in dem zerschlissenen roten Kittelchen mitleidig an und sagte zu Ham Rugen, als sie sich wieder neben den Alten auf die Bank gesetzt hatte:
„Es tut mir leid um die beiden, um Jan und um die Kleine. Wischen Böschen ihrer, der doch um mehr als ein Jahr jünger ist als Jan Stelljes, ist auch so gross wie der und kann noch mehr reden als der Dreijährige.“
„Hm“, machte Ham Rugen und reichte Wöbke Dierks den leeren Napf. Dann zupfte er sich ein Prislein Shag und schob’s in den Mund.
„Das ist das, was wir von dem Moor angenommen haben.“
„Wie meinst du das, Ham Rugen?“ fragte Wöbke Dierks.
„Hm. Hm. Ich möchte sagen: die Stelljes stecken bis an die Knie in der Moorkuhle, können nicht heraus, und alles, was sie tun, tun sie eben von dort aus, wo sie hineingesunken sind. Wenn du mich noch nicht verstehn solltest — ich weiss gar nicht: manchmal reissen mir die Gedanken so ab, oder ich finde die Worte nicht mehr für das, was ich denke — so sieh doch einmal über das Land, das um dich ist.
„Vor dreizehn Jahren war die Hütte Ham Rugens hier ganz einsam mitten im Moor. Die blieb zehn Jahre und blieb ganz allein. Vor drei Jahren kam Clas Böschen, im Vorjahre baute Heme Jensen sein Haus. Er nahm rote Ziegel zu den Wänden. Und dann kam Jan Otten und baute ein gleiches. Und hernach kamen andere vom Klinkerberg und fingen an, ihre Hütten wieder in den Grund zu graben, weil sie gar kein Geld hatten, Mauern oder gezäunte Wände aufzuführen.“
Ham Rugen deutete in die Moorheide hinaus.
Drei Rauchsäulen standen drüben auf dem Gelände. Die standen nicht fern voneinander und es war, als habe einer drei Torffeuer in dem Heidemoor angeglommen. Aber die Rauchsäulen standen nicht auf dem Grunde, sondern gingen aus drei Löchern hervor, die waren in Erdhaufen, die nur ein geringes über die Fläche emporragten. Und unter jedem der schwelenden Löcher war fast in gleicher Höhe mit dem ringsliegenden Land ein flaches Dach. Jedes der drei Dächer deckte einen Wohnraum. Der war in den Torf geschaufelt, o dass die Wände des Loches die Umfassungsmauern der ‚Erdhütte‘ bildeten. Das Licht rann von der Seite durch den Eingang in die Hütte. Dieser Eingang bildete das Ende eines schräg hinabführenden Weges.
Ham Rugen sagte:
„Jene da hätt’ ich den Einhäusern gern erspart oder hätte lieber gesehen, sie wären anderswo daheim, wo in derlei Hütten die Armut hungert. Aber die Tagelöhner sind in den Einhäusern nicht mehr übrig, und es mag sein, dass Clas Böschen und Heme Jensen im neuen Jahre, wenn sie noch mehr Moor urbar machen, noch andere Leute brauchen, die für sie arbeiten.
„Das alles wollt’ ich dir nur sagen, Wöbke Dierks, um dir zu zeigen, dass in drei Jahren sieben Familien in den Einhäusern sich angesiedelt haben, während vor dem nur ein einziger Mann da war, der lange Zeinicht wusste, was er mit der Einsamkeit anfangen sollte, die stundenweit über den Mooren lag.
„Sieh dir das Land an, das um dich liegt. Weisst du noch, wie wir zum Pastor nach dem Weyerberg schritten? Damals war kein Weg bis hinüber zum Fahrdamm, und ich dachte: man sollte Stangen mit Strohbüscheln stecken, damit sich in Jahren ein Pfad trete, auf dem man am kürzesten zu der Strasse gelangt, die durch das Moor läuft. Heute haben Clas Böschen und Jan Otten Stege mit Leitstangen über die Gräben gespannt und eine Menge neuer Wasserläufe sind im Moor und es ist viel urbar gemacht — entweder dort, wo man die Torflager