Max Geißler

Das Moordorf


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den Tagen der Nebel und Regen, mit denen der Herbst in das Moor kam. Ich dachte erst, ich wolle selbst in die Hammehütte gehen oder den Kahn suchen, den Clas Böschen fährt.“

      „Wer ist Clas Böschen?“ fragte Wöbke Dierks.

      Ham Rugen blieb still und blickte durch das Fenster — weit über die Ebene, bis hinüber, wo er das braune Segel eines Torfboots im Schiffgraben gegen die Hamme hin entschwinden sah.

      Wöbke Dierks dachte: Ham Rugen schaut wieder in die andere Zeit.

      „Clas Böschen“, begann er endlich, während sich das Mädchen am Torfbrand zu schaffen machte, „Clas Böschen war ein Junge, den ich das Schmuggeln lehrte. Er hatte helle Augen unter der Stirn und ein freudig Lachen — so froh, wie es sonst nirgends im Moore daheim ist. Die Menschen im Moore lachen nicht oft, und sie singen nie. Das lernen sie vom Gelände, auf dem sie stehen — das hat auch keinen Klang als das Klagen der Sumpfvögel. Und die Nachtigallen, die im Dunkel schlagen, hören die Menschen zu wenig oder gar nicht.

      „Clas Böschen aber war ein frohgemutes Kind. Nun ist er achtzehn Jahre geworden, und ich habe gedacht: wenn der Junge auf Wege kommt, die nicht gut sind, so werden die Leute sagen: das hat Ham Rugen getan. Und wenn die Leute sehen: Clas Böschen ist verschlagen wie ein Fuchs, so werden sie sagen: Ham Rugen hat ihn so gemacht, wie er ist. Clas Böschen war um mich Tag und Nacht. In der Koje des Torfboots hab ich mein Lager mit dem Jungen geteilt — ich braucht’ ihn, denn er hatte flinkere Beine als ich.

      „An Clas Böschen hab ich einen Brief geschrieben und gedacht, du möchtest hinüber zu den Hütten laufen, ihn suchen und ihm den Brief geben und sagen: Ham Rugen schickt mich. — Ich könnte ihn durch Hinnerk oder Gesche Stelljes hinbringen lassen. Weil ich aber glaube, sie haben nicht Zeit genug, oder sie werden den Brief einem andern geben, der Clas Böschen zu kennen vorgibt, und das Schreiben dann erst viel später oder gar nicht in die Hände dessen gelangt, für den es bestimmt ist, so will ich Hinnerk und Gesche nichts von meinem Vorhaben sagen. Es ist auch noch aus einem andern Grunde besser, der dir ganz gleichgültig wäre, wenn ich ihn dir nennen wollte.“

      Wöbke Dierks schaute nach dem Bettschrank, in dem das Kind von Gesche Stelljes schlief.

      „Um den Kleinen lass dir nicht bange sein — ich will ihm die Milch geben und will sonst an ihm tun, was du tätest, wenn du da wärst“, fuhr Ham Rugen beruhigend fort.

      „Ich weiss“, sagte Wöbke Dierks, „dass du es dem Kind an nichts fehlen lassen wirst. Übrigens werd’ ich so rasch laufen, dass ich wohl früher zurück zu dem Einhause bin als Gesche. So gib mir den Brief, damit ich gehe.“

      Wöbke fuhr mit den blossen Füssen in die Holzschuhe, schob den Brief unter die rote Jacke, band sich eine graue saubere Schürze vor, und nachdem sie noch einmal in das Bett geschaut und einen Topf mit Milch bereit gestellt hatte, lief sie aus der Hütte.

      „Du kannst frühestens kurz nach Mittag wieder hier sein!“ rief ihr Ham Rugen nach.

      Nun hörte Ham Rugen die Stille wieder schreiten wie in jenen Tagen, da ausser ihm niemand in dieser Gegend der Moorheide gelebt hatte.

      Die Uhr, deren Pendelschlag von dem Geräusche der mancherlei Hantierung in der Hütte übertönt worden, sprach wieder wie einst ihr vernehmliches und gemessenes Tick-tack-tick-tack. Der Rauch vom Torffeuer schwelte wie immer in einer blauen kräuselnden Säule gegen den Boden des Kessels, teilte sich dort und schwamm in dünnen Schleiern um das Gebälk.

      Vom Bettkasten her klangen die leisen Atemzüge des Kindes, das des Alten Wartung während der Stunden oblag, in denen Wöbke vom Hause fernblieb.

      Nun wendete sich das Kleine im Bett.

      Ham Rugen, der gerade ein Stück Torf in die Glut legen wollte, liess den Torf fallen und lief ruhelos auf der Diele hin und her. Er lief an das Fenster, weil das Kind zu schreien begann, und sah, ob Wöbke Dierks komme.

      Die war ja noch nicht einmal in den Hammehütten und konnte noch drei Stunden fortbleiben oder auch viel länger, wenn sie Clas Böschen nicht fand.

      Und Gesche Stelljes? — Wenn das Torfschiff nicht mehr in der Hamme lag und erst morgen früh ein anderes kommt, so würde sie mit Hinnerk Stelljes über Nacht in der Koje des Torfbootes schlafen. Dann musste das Kleine schreien bis in die sinkende Nacht ...

      Ham Rugen schob die Mütze aus der Stirn und kraute sich hinter den Ohren. Er dachte, was Wöbke Dierks wohl immer gemacht hatte, wenn das Kleine schrie. Aber er wusste es nicht. Da trat er auf die Diele, zog die Holzschuh aus und nahm sie in die Hände Er trat vor den Bettkasten und schlug sie hart aneinander. Einen Augenblick lauschte das Kind — dann setzte es sein Schreien um so herzhafter fort. Ham Rugen schlug die Holzschuh immer heftiger aneinander er pfiff — und endlich sang er und sprang wie toll vor dem Bett herum:

      En lüttje Deern bin ik,

      Fien Garn spinn ik,

      Kann knütten, kann neien,

      Kann Sülverdraht dreien ...

      Aber so beharrlich Ham Rugen hüpfte und dem Kleinen beteuerte, dass er en lüttje Deern sei, der Junge schrie, was er konnte.

      Endlich fiel des Alten verzweifelter Blick auf den Milchtopf, den Wöbke Dierks dicht neben das Feuer aus den Schemel gestellt hatte. Ham Rugen setzte ihn in den Torf und dachte, er wolle das Kind aus dem Bett nehmen. Aber — mit diesen Händen!

      „Dat Kind blievt foken dod un is mit eens entwei“, sagte er.

      Und doch schlich er sich ganz leis an das Bett und fasste nach dem Kleinen. Er schob ihm die Hand unter den Rücken und wollte ihn aufsetzen. Da kippte das Kind vornüber in die Decken: zum sitzen hatte es sein Lebtag noch niemand aufgefordert. Nun wollte sich’s die Seele aus dem Leibe schreien.

      Dem Alten perlte der Schweiss in heissen Tropfen von der Stirn. Da begann ein Brodeln und Zischen hinter ihm und in quirlenden Wolken stieg der Dampf: die Milch schoss brausend über den Rand des Topfes in die Glut.

      Aber Ham Rugen hatte den Jungen auf dem Arm.

      Er sang das schöne Lied vom Kuckuck und dem Kiewitt, de danzten up dem Dyk — den Kleinen kümmerte das nicht. Ham Rugen setzte sich auf den Schemel zum Feuer und schürte, als er den Milchtopf endlich zur Seite gerückt, mit der Zange in dem Brand, dass die Funken flogen. Er goss von der Milch in die Pfanne, in der Gesche den Buchweizen buk, damit sie kühl werde. Dann legte er das schreiende Kind um und flösste ihm mit dem Löffel die laue Milch ein.

      Das half. Der Kleine schlürfte gierig den süssen Trank von der Spitze des Löffels.

      Ham Rugen atmete auf und dachte, das wolle er die drei Stunden so fortsetzen, bis Wöbke Dierks wiederkomme. Alles, alles wollte er tun!

      Da wendete der Kleine den Kopf und schlief ein.

      Ham Rugen stand mit vor der Brust gefalteten Händen in der Mitte der Diele: „Dat’s slimmer as de Kontrolörs!“ sagte er und atmete tief.

      Dann schlich er fort und ging auf den Zehen aus der Tür. Mehr als eine Stunde musste noch vergehen, ehe er Wöbke auf dem Moor erblicken konnte.

      Achtes Kapitel.

      Aber die Stunde verging.

      Der Alte war zweimal auf den Torfhaufen geklettert, um weiter hinüberschauen zu können. Da leuchtete Wöbkes rote Jacke, und ihre goldenen Haare strahlten fernher übers Moor. Und neben ihr — wahrhaftig, das ist Clas Böschen!

      „Dat hät goodgangen“, murmelte Ham Rugen und zog das Papier mit dem krausen Shagtabak aus der Tasche. Er wickelte sich behaglich sein Röllchen und schob’s in den Mund.

      Dann ging er quer über den Buchweizenacker und sah, wie die beiden eiligen Schritts der Hütte zustrebten. Als sie in Rufweite waren, begann Wöbke zu laufen. Die Sorge um das ihr anvertraute Kind trieb sie.

      Ham Rugen erzählte ihr, wie er dem Kleinen die Milch eingeflösst habe — Wöbke erschrak; ob Ham Rugen denn nicht gesehen habe, dass sie auch die Saugflasche bereit gestellt