Katia Iacono

Dolmetschen im Medizintourismus


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21 bis 26 Millionen PatientInnen aus verschiedenen Ländern geben pro medizinische Reise im Durchschnitt 3.550 Dollar für Untersuchungen, Reise und Transport aus (vgl. PBB 2020).

      Die in der medizintouristischen Literatur beschriebenen Reisen können sowohl in Richtung günstigere Länder wie Ungarn oder Thailand als auch in Richtung teurere Regionen wie Europa und USA erfolgen.1 Ausschlaggebend für die Wahl des Reiseziels ist in erster Linie der Grund der Behandlungsreise. In Österreich wurden bisher kaum Studien durchgeführt, die den Medizintourismus, wie er in der vorliegenden Studie definiert wird, analysierten und die Anzahl der PatientInnen, die Österreich als Behandlungsort wählen, zentral erfassten.2 Die meisten Studien betreffen den breiter angelegten Gesundheitstourismus und zielen zumeist darauf ab, das Potenzial für die Tourismusindustrie zu eruieren. Die ermittelten Daten belegen die faktische internationale Präsenz von PatientInnen in Österreich sowie ihre wirtschaftliche Bedeutung: 2009 machten die gesundheitstouristischen Nächtigungen rund 23% (18 Millionen) der gesamten gewerblichen Nächtigungen (ohne Ferienwohnungen) aus, von denen circa zehn Prozent dem „Medical Wellness-Tourismus“ zuzuordnen waren (vgl. BMWFW 2014: 8). In einer Studie des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft wird der „Medical Wellness-Tourismus“ wie folgt definiert: „Der medizinische Aspekt steht im Fokus der Anwendungen und Behandlungen. Auch der Bereich der Privatkuren (Kuraufenthalte, die nicht durch Sozialversicherungsträger finanziert werden) ist diesem Segment zuzuordnen“ (BMWFJ 2011: 3). Statistische Angaben werden vor allem von Krankenhäusern im privaten Sektor präsentiert. So ließen sich 2011 beispielsweise 11.200 PatientInnen in der Privatklinik Döbling in Wien betreuen, davon kamen etwa zehn Prozent aus dem Ausland (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 3). In den 19 österreichischen Privatkliniken dürften laut österreichischer Wirtschaftskammer acht bis zehn Prozent der Behandelten aus dem Ausland stammen. Diese Gruppe von PatientInnen trägt die Kosten für die gewünschte medizinische Dienstleistung in den meisten Fällen selbst (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 1). Häufig stellen seltene Krankheiten oder komplizierte chirurgische Eingriffe die Gründe für medizinisch bedingte Reisen dar (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 1, Klobassa 2016: 10). In österreichischen Krankenhäusern kann eine starke Präsenz von PatientInnen aus Russland, den arabischen und den GUS-Staaten, Rumänien, der Ukraine, der Schweiz und Weißrussland beobachtet werden (vgl. Klobassa 2016: 38). Zwar ist die finanzielle Situation der PatientInnen nicht in allen Fällen ausschlaggebend für den Entschluss zu einer medizinischen Reise, dennoch gehören die meisten PatientInnen, die sich in Österreich behandeln lassen, der Mittel- und Oberschicht an und bezahlen ihre medizinische Reise aus eigenen Mitteln (vgl. Klobassa 2016: 48ff.). PatientInnen, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, greifen häufig auf Privatinitiativen wie Crowdfunding, Wohltätigkeitsveranstaltungen u.a. zurück oder machen ihre Ansprüche auf Basis der Patientenmobilitätsrichtlinie (vgl. 1.3) geltend. In der bislang einzigen Studie, die sich speziell dem Medizintourismus in Österreich widmet, präsentiert Klobassa (2016: 18) Österreich als ein weitgehend unbekanntes Land im weltweiten Medizintourismus, das aber aufgrund der sehr guten Qualität der medizinischen Versorgung und der hohen PatientInnensicherheit ein großes Potenzial in dieser Hinsicht aufweist. Im Rahmen ihrer Studie führt Klobassa die Unbekanntheit der medizintouristischen Destination Österreich auf eine fehlende professionelle Werbung zurück, da in Österreich bislang nur Privatkliniken über ausreichend Erfahrung mit PatientInnen dieser Art verfügen und aktiv PatientInnenakquise betreiben. Das Potenzial des Medizintourismus wird in Österreich aufgrund einer nicht professionellen Vermarktung des Angebots nicht ausgeschöpft (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 2). Die österreichischen Krankenhäuser scheinen zu zögern. Die öffentlichen Spitäler konzentrieren sich überwiegend auf die Versorgung der im Inland lebenden Bevölkerung, während die privaten Kliniken durch den zusätzlichen Aufwand – von der Visumbeschaffung bis zur Beauftragung von DolmetscherInnen – von der Betreuung der Gäste abschrecken lassen. Eine wichtige Rolle im Medizintourismus spielen einzelne ÄrztInnen, die auch außerhalb des Landes über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügen, oder Internetportale, die den Behandelten ein umfassendes und spezialisiertes Leistungsspektrum anbieten (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 2f.).

      Deutschland zählt hingegen zu den beliebtesten medizintouristischen Destinationen und hat das Potenzial dieses Sektors bereits erkannt (vgl. Spielberg 2009, Grätzel von Grätz 2010). Hier wird der Medizintourismus durch die Bildung von Gesundheitsclustern (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 2) wie jenem der bayerischen Landesregierung Bavaria – Better State of Health begünstigt, das in der Vermarktung des jeweiligen Landes als Anlaufstelle für ausländische PatientInnen von großer Bedeutung ist.3 Die Vernetzung von Kliniken, ÄrztInnen, Hotels und DienstleisterInnen ist für den Erfolg des Medizintourismus in Deutschland verantwortlich (vgl. Hochschule Bonn-Rhein-Sieg 2016). Das Potenzial des Medizintourismus kann als Wirtschaftsfaktor genutzt werden, wenn eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bereichen und VertreterInnen der Gesellschaft vorhanden ist (vgl. Kirsch 2017: 22).4 Anders als in Österreich werden in Deutschland von verschiedenen Institutionen regelmäßig Studien zum Medizintourismus veröffentlicht. Laut dem Statistischen Bundesamt Deutschland ließen sich im Jahr 2007 70.898 ausländische PatientInnen in deutschen Kliniken behandeln (vgl. Spielberg 2009), während die Anzahl deutscher StaatsbürgerInnen, die im selben Jahr im Ausland eine Behandlung in Anspruch nahmen, von den deutschen Kassenverbänden auf ca. 300.000 geschätzt wurde (vgl. Reisewitz 2015: 13). Im Jahr 2014 wurden 1,2 Milliarden Euro erwirtschaftet und 251.000 ausländische PatientInnen unterzogen sich stationären bzw. ambulanten Behandlungen in Deutschland, was laut einer Studie der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin einer Steigerung von 4,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entsprach (vgl. Deutsche GesundheitsNachrichten 2016, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg 2016).5 Laut Juszczak (2008: 6) ließen sich PatientInnen folgender Nationalitäten 2007 in Deutschland am häufigsten behandeln: Auf Platz 1 befinden sich die Niederlande (6.732), gefolgt von Frankreich (5.608), Österreich (4.823), Polen (4.763), Belgien (3.383), Russland (2.807), der Schweiz (2.566), Italien (2.375), Großbritannien (2.297) und den USA (1.856). Auch zehn Jahre später kommen die meisten PatientInnen noch aus diesen Herkunftsländern (vgl. OperationsKarriere 2018).

      1.3 Der Medizintourismus innerhalb der Europäischen Union

      Auch innerhalb der Europäischen Union reisen PatientInnen aus medizinischen Gründen. In diesem Kontext wird der Medizintourismus vorwiegend als PatientInnenmobilität bezeichnet. Durch die Einführung der Richtlinie 2011/24/EU – auch Patientenmobilitätsrichtlinie genannt –, die PatientInnen aus der EU, aus dem EWR-Raum sowie aus Liechtenstein, Island und Norwegen den Zugang zur sicheren und qualitativ hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung garantiert, wird die PatientInnenmobilität geregelt und begünstigt:

      Diese Richtlinie zielt darauf ab, Regeln zu schaffen, die den Zugang zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Union erleichtern und die Patientenmobilität im Einklang mit den vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen gewährleisten und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung fördern, wobei gleichzeitig die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Festlegung der gesundheitsbezogenen Sozialversicherungsleistungen und für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen und medizinischer Versorgung sowie der Sozialversicherungsleistungen, insbesondere im Krankheitsfall, uneingeschränkt geachtet werden sollen. (RL 2011/24/EU)

      Die Patientenmobilitätsrichtlinie schafft ein Regelwerk für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Diese haben eine nationale Kontaktstelle einzurichten, die die BürgerInnen über ihre Ansprüche informieren soll, und sind für die „Festlegung der gesundheitsbezogenen Sozialversicherungsleistungen und für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen und medizinischer Versorgung sowie der Sozialversicherungsleistungen […]“ zuständig (RL 2011/24/EU). Durch die Einführung der Patientenmobilitätsrichtlinie wurden PatientInnenreisen in Europa zumindest auf finanzieller Ebene erleichtert, denn die Kosten für die Behandlung in einem anderen EU-Land können bis zu der Höhe erstattet werden, die bei einer ähnlichen Behandlung im Inland angefallen wären (vgl. RL 2011/24/EU bzw. BMG 2016). Bei komplexeren Behandlungen, die ein „erhöhtes Planungsbedürfnis“ (BMG 2016, Pt. 14) aufweisen bzw. einen stationären Aufenthalt erfordern, ist meistens eine Genehmigung einzuholen. Die EU-Richtlinie schreibt vor, dass der Antrag in folgenden Fällen vor der Behandlung einzureichen