Michael Löwy

Erlösung und Utopie


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      Michael Löwy wurde 1938 als Sohn Wiener Juden in São Paulo, Brasilien, geboren. Seit 1969 lebt er in Paris. Er war Direktor der Sektion Soziologie der französischen wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft C.N.R.S. und unterrichtete an der École des hautes études en sciences sociales, Paris. Veröffentlichungen u.v.a. The Theory of Revolution in the Young Marx, Chicago 2005, „Biographische Skizze“ sowie „Hannah Arendt und Walter Benjamin“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Auseinandersetzungen mit dem zerstörten jüdischen Erbe. Franz-Rosenzweig – Gastvorlesungen 1999–2005, Kassel 2004; Ecosocialism: A Radical Alternative to Capitalist Catastrophe, Chicago 2015; Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, Hamburg 2016.; Rosa Luxemburg. Der zündende Funke der Revolution, Hamburg 2020.

      Michael Löwy

      Erlösung und Utopie

      Jüdischer Messianismus

      und libertäres Denken

      Eine Wahlverwandtschaft

      Aus dem Französischen von

      Dieter Kurz und Heidrun Töpfer

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      Titel der Originalausgabe:

      »Rédemption et utopie. Le judaïsme libertaire en Europe centrale«

      © 1988 Presses Universitaires de France, Paris

      © E-Book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

      Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

      Vorwort von Michael Löwy zur 3. Auflage aus dem Portugiesischen von Hans-Georg Flickinger.

      © 2002 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin

      Erstausgabe: © 1997 Karin Kramer Verlag, Berlin

      Alle Rechte vorbehalten.

      Coverabbildung: „Angelus Novus“ von Paul Klee, 1920, The Israel Museum, Jerusalem, Gift of Fania and Gershom Scholem, Jerusalem; John Herring, Marlene and Paul Herring,

      Jo Carole and Ronald Lauder, New York

      Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

      Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

      eISBN 978-3-86393-561-0

      Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-099-8

      Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

       www.europaeische-verlagsanstalt.de

       Vorwort zur Neuausgabe

       Erlösung und Utopie. Das libertäre Judentum in Mitteleuropa

      Dieses Buch wurde erstmals 1988 von der Presses Universitaires de France veröffentlicht. Es wurde ins Englische (mit vor kurzem als Taschenbuch erfolgter Neuausgabe des Verlags Verso, London), ins Deutsche, Spanische,

      Italienische, Schwedische, Griechische und Portugiesische übersetzt.

      Seitdem schrieb ich verschiedene weitere Bücher, in denen ich diese Thematik durchdachte und einige der in diesem Buch erwähnten Autoren durcharbeitete: Walter Benjamin. Avis d’Incendie (PUF, Paris, 2001), Franz Kafka, Rêveur insoumis (Stock, Paris, 2008), Juifs Heterodoxes. Romantisme, Messianisme, Utopie (Ed. De l’Eclat, 2010), La revolution est le frein d’urgence. Essais sur Walter Benjamin (Ed. De l’Eclat, 2019). Diese Arbeiten bilden ein Ganzes, das die Umrisse einer andersdenkenden, romantisch-revolutionären, utopischen, messianischen und libertären jüdischen Kultur zu zeichnen versucht. Eine melancholische Konstellation von Sternen, die einer vom anderen sehr unterschieden sind, aber das kulturelle Firmament des 20. Jahrhunderts erhellen.

      Wie man aus dem Vorwort zur ersten Ausgabe ersehen kann, war Erlösung und Utopie ein Werk, in das ich viel von meiner Person einbrachte, obwohl der Text die Form einer akademischen Untersuchung nach allen Regeln dieses Genres aufweist. Ich meine, dass die beiden Dinge nicht widersprüchlich sind; aber nicht alle teilen diese Meinung. Emile Durkheim schrieb, der Soziologe müsse, wenn er eine Forschung beginnt, seine Meinungen und „Vorurteile“ beiseitelassen. Ich tat mehr oder minder das Gegenteil.

      Seit damals wurden sehr viele Arbeiten über die verschiedenen in diesem Buch behandelten Denker veröffentlicht, aber es gibt wenige Studien, die diese Autoren als Teile einer in sich geschlossenen Ganzheit zu analysieren und zu vergleichen versuchen. Einer der interessantesten Versuche ist das Buch von Pierre Bouretz, Témoins du futur. Philosophie et messianisme (Gallimard, Paris, 2003), ein aufwendiges Werk (1246 Seiten) auf hohem Niveau, welches das Denken von Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Martin Buber, Ernst Bloch, Leo Strauss, Hans Jonas und Emmanuel Levinas behandelt. Jedes Kapitel enthält eine ausgezeichnete Analyse des untersuchten Autors, aber das Ganze weist keine größere Kontinuität auf. In einer kurzen Einführung von 13 Seiten versucht Bouretz zu skizzieren, was diesen Gestalten gemeinsam ist, kommt aber dabei nicht sehr weit: Ihre philosophische und politische Heterogenität ist zu groß, um eine wirksame Vision des Ganzen zu erlauben. Sicher, sie waren alle „Zeugen der Zukunft in kargen Zeiten”; sie alle „interessierten sich für Hegel, Nietzsche oder Heidegger, ohne zu Hegelianern, Nietzscheanern oder Heideggerianern zu werden”, aber das genügt nicht, um einen zusammenhängenden kulturellen Raum zu definieren: Was gibt es an Gemeinsamem zwischen den revolutionären Utopien Benjamins oder Blochs und dem konservativen Traditionalismus von Leo Strauss?

      Die in Erlösung und Utopie behandelten Denker gehören der Vergangenheit an: Aber das heißt nicht, dass sie nicht noch heute Interesse weckten. Walter Benjamin zum Beispiel, um nur einen von ihnen zu nennen, findet heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, eine weit größere Resonanz als in seiner Zeit, in der er nur einem kleinen Zirkel von Freunden und zufälligen Lesern bekannt war. Die Faszination, die er auf junge Generationen von Intellektuellen, Studierenden oder Militanten in Europa, den Vereinigten Staaten und Lateinamerika ausübt, ist beeindruckend. In Deutschland gibt es eine umfangreiche und qualitativ bedeutende Literatur zu seinem Werk, das Gegenstand von Debatten, Kolloquien und Seminaren gewesen ist, alle Fachgebiete der Universität mobilisiert und ein Publikum von jungen Leuten anzieht, die versuchen, sich seine Ideen anzueignen, um die Realität zu verstehen und zu verändern.

      Gibt es denn in der jüdischen Kultur, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelte, vergleichbare Gestalten mit denen der am Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Generation? Im Mai 1968, in Frankreich, spielte eine ganze Generation junger jüdischer Studenten beim Aufbruch mit halb aufständischem Charakter in jenem Moment eine zentrale Rolle: unter ihnen ein Anarchist, Daniel Cohn-Bendit, und ein Marxist, Daniel Bensaïd, die die Bewegung des 22. März bilden sollten, welche die erste, den Frühling ankündigende Schwalbe sein wird. Unter den Denkern der vorherigen Generation ist Herbert Marcuse derjenige, der die direkteste Beziehung mit den rebellischen Bewegungen der Jugend in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa einging. Obwohl ein Teil seines Werks als Ausdruck einer romantisch-revolutionären Vision interpretiert werden kann, sind das Judentum im Allgemeinen und der jüdische Messianismus im Besonderen keine konstitutiven Elemente seines Denkens.

      Noch heute finden wir viele radikale jüdische Persönlichkeiten, eine grundlegende soziale Veränderung herbeisehnende Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft: Es reicht, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten an Namen wie Noam Chomsky, Bernie Sanders, Noami Klein, Judith Butler zu erinnern. In Frankreich war Stéphane Hessel, der in seiner Jugend Walter Benjamin kennen lernte, Autor einer Broschüre, Indignez-vous! (2010), die in zig Sprachen übersetzt und in Millionen von Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet wurde, und die letztlich in direkter Weise zu der Bewegung der „Empörten” in Spanien, Griechenland, den Vereinigten Staaten usw. beitrug. Aber zwischen diesen Persönlichkeiten – und vielen weiteren, die erwähnt werden könnten – gibt es keine gemeinsame Kultur, die auch nur entfernt der ähnelte, die wir im deutschen Judentum des