Michael Löwy

Erlösung und Utopie


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Goethe und Max Weber … Wir wollen versuchen, sämtliche Bedeutungsschichten zu integrieren, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, und bezeichnen als »Wahlverwandtschaft« eine ganz besondere Art dialektischer Beziehung, die sich zwischen zwei sozialen oder kulturellen Konfigurationen ansiedelt und die auf eine direkte kausale Determinierung oder auf »Einfluß« im traditionellen Sinne des Wortes nicht zurückzuführen ist. Zugrunde liegt eine bestimmte strukturelle Analogie, von der eine Bewegung des Konvergierens, der gegenseitigen Anziehung und des aktiven Zusammenfließens ausgeht und die eine Vereinigung bewirkt, die zur Verschmelzung führen kann. Unserer Meinung nach dürfte es interessant sein, den Begriff zur Methode zu erheben, zu einem Instrument interdisziplinärer Forschung, das uns erlaubt, Verhältnisse zwischen ökonomischen, politischen, religiösen und kulturellen Phänomenen intensiver wahrzunehmen und zu beschreiben.

      Um die unterschiedlichen Bedeutungsschichten des Begriffs zu erschließen, beginnen wir mit einem kurzen Abriß seiner Geschichte.

      Der Begriff attractiones electivae erscheint zum ersten Mal bei dem schwedischen Chemiker Torbern Olof Bergman. Seine Schrift De attractionibus electivis (Uppsala 1775) wird auf Französisch unter dem Titel Traité des affinités chimiques ou attractions électives (1788) veröffentlicht. Zur Terminologie erklärt Bergman: »Einige verwenden den Begriff Affinität für das, was wir Attraktion genannt haben. Ich werde im folgenden beide Begriffe gebrauchen, obwohl der erste, bildhaftere, für eine physikalische Untersuchung weniger geeignet erscheint.«

      In der deutschen Übersetzung des Buches von Bergman (Frankfurt am Main, Tabor Verlag, 1782–1790) wird attraction élective mit Wahlverwandtschaft wiedergegeben, was dem Französischen affinité élective entspricht.

      Die Ähnlichkeit mit der Formulierung von Boerhaave (zwei Elemente die »sich suchen, vereinigen und finden«) ist verblüffend und wir können nicht ausschließen, daß Goethe auch das Werk des niederländischen Alchimisten kannte und daraus Anregungen bezog.

      Seit Goethes Roman hat der Begriff sich im deutschen Sprachraum eingebürgert, er bezeichnet einen besonderen Typ von Seelenverwandtschaft. In Deutschland wird er auch seine dritte Metamorphose erfahren: Max Weber, dieser große Alchimist der Sozialwissenschaften, formt ihn um zu einem Konzept der Soziologie. Vom überlieferten Bedeutungszusammenhang übernimmt er bestimmte Konnotationen wie die der gegenseitigen Wahl, Anziehung und Verbindung, aber die Dimension des Neuen scheint zu verschwinden. Das Konzept der Wahlverwandtschaft – desgleichen das bedeutungsähnliche der Sinn-Affinitäten – taucht in Webers Schriften in drei präzisen Zusammenhängen auf.

      Wir stellen fest, daß der Begriff das erste Mal in Anführungszeichen erscheint, als ob Weber sich entschuldigen wollte für die Verwendung einer romantischen und literarischen Metapher im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse. Aber im folgenden fallen die Anführungsstriche weg: das Wort ist zum Konzept geworden …

      Während Webers Begriff auf eine innere Beziehung zwischen den beiden Figuren verweist, die reich ist an Sinngehalt und Bedeutungen, verrät sie Parsons mit seiner Übersetzung, macht sie zu einer banalen Beziehung oder Wechselbeziehung, die äußerlich bleibt und sinnentleert. Man könnte nicht besser illustrieren, daß dieses Konzept unauflöslich verbunden ist mit einem ganz bestimmten kulturellen Hintergrund, einer Tradition, die ihm seine expressive und analytische Kraft verleiht.

      In diesen drei von Weber verwendeten Definitionen besteht Wahlverwandtschaft