neuen Substanz oder einer wesentlichen Veränderung der ursprünglichen Komponenten käme – selbst dann nicht, wenn ihre Interaktion wirksame Konsequenzen hat, indem sie zum Beispiel die innere Logik jeder Figur verstärkt.
Max Weber hat nie versucht, diesen Begriff genauer zu untersuchen, die Konsequenzen zu diskutieren, die er als Methode mit sich bringt, oder das Gebiet festzulegen, in dessen Grenzen er angewendet werden kann. Hier und da begegnet er uns in deutschsprachigen Untersuchungen der Soziologie, jedoch immer ohne die geringste Reflexion, was er als Konzept bedeutet. Zum Beispiel schreibt Karl Mannheim in seiner bemerkenswerten Studie über das konservative Denken: »Bei dem Zusammenfließen zweier Denkrichtungen besteht die wissenssoziologische Aufgabe darin, jene Momente in den beiden Strömungen aufzusuchen, welche bereits vor der Synthese eine innere Verwandtschaft aufwiesen und dadurch die Vereinigung erst ermöglichten.«9
Im Verlauf unserer Arbeit über die Verbindungen zwischen jüdischem Messianismus und gesellschaftlicher Utopie erschien uns das Konzept der Wahlverwandtschaft als geeignetes und erfolgversprechendes Handwerkszeug, um diese Verbindung genauer zu analysieren. Natürlich haben wir den Eindruck, daß es darüber hinaus beim Studium vieler anderer Aspekte der sozialen Realität dienlich sein könnte. Es hilft uns beim Verständnis, beim Verstehen im wörtlichen Sinne, wenn es um eine ganz bestimmte Art von Verbundenheit zwischen Phänomenen geht, die auf den ersten Blick disparat erscheinen mögen, aber innerhalb der kulturellen Sphäre angesiedelt sind. Wir denken an Verbindungen zwischen Religion, Philosophie und Literatur, aber auch an die Beziehungen zwischen Phänomenen unterschiedlicher sozialer Bereiche: zwischen Religion und Ökonomie, Mystik und Politik usw. Es könnte z. B. recht erhellend sein, auf das Konzept der Wahlverwandtschaft zurückzugreifen, wenn die Beziehung studiert werden soll, die sich im Mittelalter zwischen ritterlicher Ethik und Kirchenlehre10 herausgebildet hat, oder seit dem 16. Jahrhundert zwischen Kabbala und Alchimie. (Zu letzterem Thema existiert übrigens eine lesenswerte Arbeit von Gershom Scholem, »Alchimie und Kabbala«, veröffentlicht 1977 im Eranos Jahrbuch Nr. 45). Im 19. Jahrhundert lassen sich Beziehungen zwischen traditionalistisch konservativem Denken und romantischer Ästhetik beobachten (siehe dazu den oben erwähnten Artikel von Mannheim), zwischen deutschem Idealismus und Judentum (vgl. die Studie von Habermas), zwischen Darwinismus und der Lehre von Malthus.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir die kantische Moral in Verbindung mit der positivistischen Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften; und im 20. Jahrhundert nimmt die Psychoanalyse Beziehungen zum Marxismus auf, der Surrealismus zum Anarchismus usw.
Allerdings erfordert ein systematischer Gebrauch unseres Begriffs eine bestimmte Anzahl von Definitionen, ohne die er als Konzept nicht wirksam wäre. Zu Beginn müssen wir bedenken, daß es mehrere Ebenen oder Stufen von Wahlverwandtschaft gibt:
1. Die erste ist einfach Verwandtschaft, geistige Nähe, strukturelle Homologie (ein Begriff, der in der Literatursoziologie von Lucien Goldmann Verwendung findet), Korrespondenz im Sinne von Baudelaire.
Die Theorie der Korrespondenzen ist in systematischer Form das erste Mal in der mystischen Lehre Swedenborgs formuliert worden, er vertrat die Theorie einer Korrespondenz im wörtlichen Sinne des Himmels mit der Erde und der spirituellen Dinge mit den natürlichen. Baudelaire bezieht sich auf Swedenborg, der ihn unterrichtet hat, »daß alles, Form, Bewegung, Zahl, Farbe, Duft im Geistigen wie im Natürlichen bedeutungsvoll ist, wechselseitig, konvergent, korrespondierend«. Aber der Begriff verliert bei ihm die ursprüngliche mystische Konnotation und bezeichnet ein System wechselseitiger Analogien, die im Universum schweben, »die intimen und geheimen Beziehungen zwischen den Dingen«.11
Es erscheint uns wichtig, darauf hinzuweisen, daß es sich bei der Korrespondenz (oder Verwandtschaft) um eine Analogie handelt, die im Statischen verbleibt. Sie ruft die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit einer aktiven Konvergenz hervor, einer attractio electiva. (Wir berücksichtigen hier die Kritik von Danièle Hervieu-Léger am ungenauen Gebrauch des Begriffs in unserem 1981 entstandenen Artikel über Messianismus und Utopie.12) Die Umwandlung dieser Kraft in einen Akt, die Dynamisierung der Analogie, seine Entwicklung zur aktiven Interaktion ist abhängig von konkreten historischen Bedingungen: wirtschaftlichen Veränderungen, Reaktionen sozialer Klassen und Kategorien, kulturellen Bewegungen, politischen Ereignissen usw.
2. Die Wahl, gegenseitige Anziehung, aktive Entscheidung von zwei sozio-kulturellen Konfigurationen füreinander. Sie führt zu bestimmten Formen der Interaktion, der gegenseitigen Stimulierung und der Konvergenz. An diesem Punkt beginnen die Analogien und Konvergenzen dynamisch zu werden, aber die beiden Strukturen bleiben getrennt.
Auf dieser Ebene oder am Übergang zur folgenden ist die Wahlverwandtschaft zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus angesiedelt, von der Max Weber spricht.
3. Die Paarung, Verbindung oder »Mischung« zweier Partner. Sie kann entstehen aus unterschiedlichen Formen der Gemeinschaft:
a)Sie könnte als »kulturelle Symbiose« bezeichnet werden. Beide Figuren bleiben unterscheidbar, sind aber organisch miteinander verbunden.
b)Eine Verschmelzung findet nur teilweise statt.
c)Die völlige Verschmelzung (die chemische Hochzeit von Boerhaave).
4. Die Bildung einer neuen Figur. Sie entsteht aus der Verschmelzung wesentlicher Elemente. In diesem Sinne verwendet Goethe den Begriff, doch in den Untersuchungen Max Webers fehlt diese Dimension. Sicher ist es schwierig, zwischen der dritten und der vierten Stufe zu unterscheiden: ist beispielsweise die Psychoanalyse marxistischer Prägung nur eine Verbindung von zwei unterschiedlichen Denkrichtungen, oder haben wir es hier mit einer ganz neuen Form des Denkens zu tun, ebenso verschieden von der Psychoanalyse wie vom historischen Materialismus?
Es könnte nützlich sein, unser Konzept mit anderen Begriffen oder Kategorien zu vergleichen, derer man sich gewöhnlich bedient, um Beziehungen zwischen sinnträchtigen Strukturen zu analysieren. Nur auf diese Weise können wir uns Klarheit verschaffen über seine besonderen Eigenschaften, auch über die Möglichkeiten, die es uns bietet. Wahlverwandtschaft, so wie wir sie hier verstehen, ist nicht gleichzusetzen mit ideologischer Affinität zwischen verschiedenen Varianten derselben sozialen und kulturellen Strömung, z. B. zwischen ökonomischem und politischem Liberalismus, zwischen Sozialismus und Egalitarismus usw. Die Wahl, Entscheidung füreinander setzt Distanz voraus, einen geistigen Abstand, der überwunden werden muß, eine Art von ideologischer Heterogenität. Andererseits ist Wahlverwandtschaft keinesfalls identisch mit »Korrelation«; ein vager Begriff, der lediglich besagt, daß es zwischen zwei verschiedenen Phänomenen eine Beziehung gibt. Wahlverwandtschaft bezeichnet ein ganz bestimmtes sinnvolles Verhältnis, es hat nichts zu tun mit einer statischen Korrelation, wie beispielsweise der zwischen Wirtschaftswachstum und Abnahme der Geburtenziffern. Wahlverwandtschaft ist auch kein Synonym für »Einfluß«. Sie beinhaltet ein Verhältnis, das viel aktiver ist und von beiden Seiten getragen wird, das zur Verschmelzung führen kann. Es ist ein Begriff, der uns erlaubt, Interaktionsprozesse zwischen Elementen darzustellen, deren Verhältnis weder unmittelbar kausal noch »expressiv« wie das zwischen Form und Inhalt ist. (Zum Beispiel ließe sich die Form der Religionsausübung als Ausdruck eines politischen oder sozialen Inhalts deuten).
Unser Begriff kann andere Paradigmen nicht ersetzen, soweit sie der Analyse, der Erklärung und dem Verständnis dienlich sind. Aber er öffnet uns eine neue, bisher kaum bekannte Sicht auf Fragestellungen der Kultursoziologie.
Übrigens ist es erstaunlich, daß seit Max Weber so wenig unternommen wurde, ihn zu überprüfen und im Rahmen konkreter Forschungsaufgaben anzuwenden.
Selbstverständlich findet Wahlverwandtschaft nicht im leeren Raum oder im azurblauen Himmel der reinen Geistigkeit statt: Sie wird begünstigt oder behindert von geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheiten. Mögen Analogie und Verwandtschaft als solche auch nur vom geistigen Gehalt der signifikanten Strukturen abhängig sein, von denen hier die Rede ist, ihr Zueinander-in-Beziehung-treten und ihre aktive Interaktion finden unter konkreten gesellschaftlichen,