Karrieresucht zu sehen. Auch ehrliche und echte Überzeugtheit spielte eine Rolle. Sogar ein zutiefst religiöser Jude wie Franz Rosenzweig konnte 1923, kurz nach der Veröffentlichung seines großen theologischen Werkes Der Stern der Erlösung noch schreiben: »Ich glaube, die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht … Und der Stern wird wohl einmal und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt, angesehen werden.«7
Bis zu einem gewissen Punkt war diese Assimilation möglich, aber es gab eine gesellschaftliche Schranke, die nicht zu überschreiten war. Moritz Goldstein bringt das 1912 in einem Text (»Deutsch-Jüdischer Parnass«) zum Ausdruck, der an die Klage eines enttäuschten Liebenden gemahnt: »Machen wir uns doch nichts vor: wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die andern fühlen uns ganz undeutsch … Sind wir nicht aufgewachsen mit dem deutschen Märchen? … Lebt nicht auch in uns der deutsche Wald, dürfen nicht auch wir seine Elfen und Gnomen erblicken …?«8
Die Assimilation hatte auch da ihre Grenzen, wo die jüdischen Mitbürger von einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Tätigkeiten ausgeschlossen blieben. Der Zugang zur Verwaltung, zur Armee, zum Gerichtswesen und zum öffentlichen Schul- und Erziehungswesen blieb ihnen verwehrt. Seit Beginn des Jahres 1890 ließ sich sogar ein wachsender Antisemitismus beobachten; er hatte seine Ideologen, seine Aktivisten, seine Presse. Aus all diesen Gründen kann von einer wirklichen Integration der jüdischen Bevölkerung in Mitteleuropa nicht die Rede sein. Auf sie treffen einige der wesentlichen Bestimmungen Max Webers in seiner klassisch gewordenen Definition des Paria-Volkes zu: »Eine durch (ursprünglich) magische, tabuistische und mit rituellen Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung nach außen einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit weitgehender ökonomischer Sondergebahrung andererseits, zu einer erblichen Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband.«9 Natürlich läßt sich die damalige Situation der Juden mit der bestimmter Kasten in Indien oder der der jüdischen Ghettobewohner im Mittelalter nicht vergleichen. Wirtschaftliche Sicherheit und eine zumindest formelle Gleichheit der Bürgerrechte waren seit der Emanzipation gewährleistet. Aber auf gesellschaftlicher Ebene hatte der Jude nicht aufgehört, Paria zu sein. Und er legte sich, um mit Hannah Arendt zu sprechen, Rechenschaft über die Tatsache ab, »how treacherous the promise of equality (is) which assimilation has held out.«10
Als Königsweg zum Erwerb gesellschaftlicher Würden und Ehren galt in Deutschland wie im übrigen Mitteleuropa die Universitätskarriere. Wie der Neukantianer Friedrich Paulsen schreibt, bildeten die Bürger mit universitärer Ausbildung in Deutschland eine Art von intellektueller Aristokratie. Das Nichtvorhandensein eines akademischen Titels hingegen stellte einen Makel dar, den weder Reichtum noch hohe Geburt völlig ausgleichen konnten.11 Das innere Gesetz der kulturellen Assimilation und das Bedürfnis, auf der sozialen Stufenleiter nach oben zu kommen, treiben das jüdische Bürgertum vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu, seine Söhne zur Universität zu schicken. »Wie die meisten deutschen Kaufleute, wollten auch die jüdischen höher hinaus. Die Auszeichnungen durch Ehrenämter, Titel und Orden, die ihnen trotz des Antisemitismus nicht ganz vorenthalten blieben, genügten nicht; ihre Söhne und Schwiegersöhne sollten mehr gelten als sie selber. Die Laufbahn des Offiziers und höheren Beamten, das Ziel des christlichen jungen Mannes, war dem jüdischen verschlossen, wenn er es sich nicht durch die Taufe erschloß, das akademische Studium offen.«12
So kommt man seit 1895 zu einem Anteil von jüdischen Studenten an den deutschen Universitäten, der 10 % beträgt, das sind zehnmal soviel, wie der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung ausmacht (1,05 %).13 Dieser massive Bildungsanstieg der jüdischen Jugend aus bürgerlichem Milieu führt um die Jahrhundertwende schnell zur Formation einer neuen sozialen Kategorie: der jüdischen Intelligenz.
Natürlich findet man jüdische Intellektuelle deutscher Muttersprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Moses Mendelssohn), aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist das Phänomen allgemein zu beobachten und wird zu einem neuen gesellschaftlichen Faktum. Diese jüdischen Intellektuellen sind ein typisches Beispiel für die sozial freischwebende Intelligenz, von der Mannheim spricht. Sie sind »deklassiert«, instabil, ohne feste soziale Einbindung. Ihre Lebensbedingungen sind ungeheuer widersprüchlich: tief verwurzelt in der deutschen Kultur, bleiben sie dennoch Außenseiter, Kosmopoliten, die ohne ihre Muttersprache nicht leben können, ohne innere Beziehung und im Widerspruch zu ihren geschäftstüchtigen, bürgerlichen Elternhäusern. Von der traditionellen, ländlichen Adelsschicht werden sie verachtet und haben keine Chance, in die gesellschaftlichen Kreise aufgenommen zu werden, wo ihr natürlicher Platz wäre (eine Karriere als Universitätsprofessor). Da sie ideologisch verfügbar sind, erliegen sie rasch der Faszination und fühlen sich von zwei entgegengesetzten Geisteshaltungen gleichermaßen angezogen. Thomas Mann hat die Eckpfeiler des Spektrums intellektueller Auseinandersetzungen im Deutschland jener Zeit im Zauberberg personifiziert: »Settembrini« verkörpert den liberalen Menschenfreund, Demokraten und Republikaner und »Naphta« den romantischen, konservativen Revolutionär.
Für viele junge jüdische Intellektuelle wird der Rationalismus, der Glaube an die Evolution des Fortschritts im Sinne der Aufklärung und die Philosophie der Neukantianer zum Anknüpfungspunkt. Diese Position steht nicht im Widerspruch zu einer Art von »verdünntem« Judentum, oft reduziert auf bloße monotheistische Ethik im Sinne von Hermann Cohen. Im Rahmen dieser Weltanschauung sind mehrere Standpunkte möglich. Das geht vom gemäßigten Liberalismus, der die bevorzugte Ideologie der jüdischen Bourgeoisie darstellt, bis zur Anhängerschaft an die Sozialdemokratie (Eduard Bernstein), an den Marxismus (Max Adler, Otto Bauer und die Austro-Marxisten) und sogar an den Kommunismus (Paul Levi, Ruth Fischer, Paul Frölich, August Thalheimer). Die vorherrschende Strömung im Geistesleben Mitteleuropas um die Jahrhundertwende aber ist der romantische Antikapitalismus. Es ist demnach unvermeidlich, daß ein großer Teil der neuen jüdischen Intelligenz, die ihre Universitätsausbildung um die Jahrhundertwende erhalten hat, von der romantischen Kritik an der industriellen Zivilisation wie »Naphta!« fasziniert ist. Gierig machen sie sich diese nostalgische, antibürgerliche Weltanschauung zu eigen. Im universitären Milieu gibt es ohnehin keine andere, vor allem nicht in den Geisteswissenschaften, auf die sich das Gros der jüdischen Studenten stürzt. Was daraus folgt, ist die Weigerung, in das Geschäft des Vaters einzutreten, die Revolte gegen das bürgerliche Familienmilieu und das heftige Streben nach einer »intellektuellen Lebensweise«.14 Nun kommt es zum Generationskonflikt, der von so vielen jüdischen Intellektuellen in ihrer Autobiographie beschrieben wird: dem Bruch der jungen, auf Kultur, Spiritualität, Religion und Kunst versessenen Antibourgeois mit ihren Eltern, die als Unternehmer, Geschäftsleute oder Bankiers erfolgreich sind und sich in Sachen Religion eines gemäßigten Liberalismus befleißigen, der sie nicht daran hindert, gute deutsche Patrioten zu sein.15 Leo Löwenthal, Literatursoziologe der Frankfurter Schule, schildert das Gefühl, das viele Intellektuelle seiner Generation beherrschte, in einem Interview: »Mein Elterhaus war sozusagen die Symbolisierung all dessen, was ich nicht wollte – schlechter Liberalismus, schlechte Aufklärung und doppelte Moral.«16
Mannheim verwendet den Begriff Generationszusammenhang, um die enge Bindung zu bezeichnen, die aus der Teilhabe an einem gemeinsamen geschichtlichen und gesellschaftlichen Schicksal einer Generation erwächst.17 Tatsächlich ist der Bruch zwischen den Generationen kein biologisches Faktum. Nur unter ganz bestimmten sozialen Bedingungen entsteht ein Abstand oder sogar eine Kluft zwischen den Generationen. Bei der neuen jüdischen Intelligenz, die in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde, läßt sich solch ein Generationszusammenhang nachweisen. Er betrifft die Gruppe von Intellektuellen, der diese Untersuchung gewidmet ist. Sie alle sind etwa in den letzten zwanzig Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren: Martin Buber 1878, Franz Kafka 1883, Ernst Bloch 1885, Georg Lukács 1885, Franz Rosenzweig 1886, Walter Benjamin 1892, Ernst Toller 1893, Gershom Scholem 1897, Erich Fromm 1900, Leo Löwenthal 1900. Allerdings muß ergänzt werden, daß die oben skizzierte soziologische Analyse lediglich Aufschluß