am Scheideweg steht Walter Benjamin. Er gehört beiden Gruppen gleichzeitig an und verkörpert wie kein anderer die messianische, libertäre Kultur des deutschsprachigen Judentums.
Diese Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Gruppierungen macht auch deutlich, daß die Wahlverwandtschaft zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie nicht frei von Spannungen ist, vielleicht sogar einen Widerspruch enthält. Wir meinen den nationalen und kulturellen jüdischen Partikularismus, der zum Messianismus gehört, und den universalistischen – humanistischen, internationalistischen – Charakter der emanzipatorischen Utopie. In der ersten Gruppierung relativiert die Prädominanz des jüdischen Partikularismus den revolutionären, universalistischen Charakter der Utopie, ohne ihn zum Verschwinden zu bringen.
In der zweiten Gruppierung steht der Universalismus der Utopie im Vordergrund, und der Messianismus verliert seine jüdische Prägung, die jedoch nicht völlig ausgelöscht wird.
Warum hat sich dieses politische und kulturelle Phänomen nur in Mitteleuropa entwickelt und in keinem anderen Teil des europäischen Judentums? Und warum ausgerechnet in diesem historischen Moment? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die besondere, widersprüchliche Situation der deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen in Mitteleuropa untersuchen. Dann werden wir auch verstehen, in welcher Weise der romantische Antikapitalismus von ihnen rezipiert wurde.
1Max Weber: Das antike Judentum. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, Tübingen 1923, S. 6.
2Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 1969, S. 195f, 210, 214.
3Paul Honigsheim: »Soziologie der Mystik«. In: Max Scheler (Hg): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, Leipzig 1924, S. 343.
4Gershom Scholem: »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, Judaica I, Frankfurt am Main 1963, S. 41f.
5Ebd., S. 12f. Der utopische Aspekt des Messianismus erscheint bereits im Alten Testament, vgl. z. B. Jesaja 65:17: »Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch sie zu Herzen nehmen.« Zum messianischen Zeitalter als Wiederherstellung des verlorenen Paradieses (auch in der Literatur der Rabbiner) vgl. Hermann Leberecht Strack, Paul Billerbeck: Kommentar zum Alten Testament. Aus Talmud und Midrasch, München 1924, Band IV, S. 886, 893; Hugo Gressmann: Der Messias, Göttingen 1929, S. 150–163.
6Sigmund Mowinckel: He that Cometh, Oxford 1956, S. 143. Vgl.auch S. 144: »Die Restauration ist eine Rückkehr der Dinge zu ihrer ursprünglichen Vollkommenheit, die letzten Dinge werden die ersten sein.«
7Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S. 294–301. Der Begriff Tikkun taucht bei mehreren deutsch-jüdischen Philosophen auf; außer Scholem verwenden ihn Buber, Bloch und indirekt Benjamin.
8Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 196.
9Georges Darien: »Anarchistes«. In: L’Ennemie du peuple, Paris 1972, S. 166.
10Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, S. 313.
11Gershom Scholem: Die jüdische Mystik …, S. 20. Vgl. auch Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt am Main 1992, S. 30f: »Es gibt keine Kontinuität zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit … Mit Erlösung war eine Revolution in der Geschichte gemeint.«
12Gershom Scholem: »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, Judaica I, S. 24f. Die Kritik Scholems an der Vernachlässigung der katastrophischen Dimension des jüdischen Messianismus und an seiner Reduzierung auf die Fortschrittsidee wendet sich ausdrücklich gegen Hermann Cohen, indirekt vielleicht aber auch gegen Joseph Klausner, den nationalistischen Messianismusforscher der Hebräischen Universität in Jerusalem, für den die »Quintessenz des jüdischen Messianismus« im »Ideal einer unaufhörlichen geistigen Entwicklung« besteht. (Vgl. Joseph Klausner: The Messianic Idea in Israel from its Beginning to the Completion of the Mishna, London 1956, S. 70f.)
13Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 372.
14Gershom Scholem: »Considérations sur la théologie juive«. In: Fidélité et Utopie. Essais sur le judaisme contemporain, Paris 1978, S. 254, 256. Vgl. auch die englische Übersetzung aus dem Hebräischen On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays, New York 1976.
15Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 190. Zum messianischen, utopischen und apokalyptischen Charakter des Anarchismus äußert sich ebenfalls Eric Hobsbawm in seiner Untersuchung der anarchosyndikalistischen Agrarbewegung in Spanien: »Das beeindruckendste Beispiel einer modernen millenaristischen oder quasi millenaristischen Massenbewegung.« (Eric Hobsbawm: Primitive Rebels, New York 1965, S. 90)
16Vgl. Sigmund Mowinckel: op. cit., S. 261–263, 265.
17Die hebräischen Zitate sind der Ausgabe des Alten Testaments durch die British and Foreign Bible Society, London 1963, entnommen. Die deutschen Zitate stammen aus Die Heilige Schrift, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers (Hg: C. I. Scofield), New York 1967.
18Zu anderen biblischen und nachbiblischen Quellen zu dieser Thematik vgl. Sigmund Mowinckel: op. cit., S. 154.
19Ebd., S. 172; vgl. auch S. 140–148.
20Jakob Taubes: Studien zu Geschichte und System der abendländischen Eschatologie, Bern 1947, S. 18. (Erschien als Dissertation vollständig unter dem Titel: Abendländische Eschatologie.)
21Gershom Scholem: Judaica I, S. 47–50 und Judaica II, Frankfurt am Main 1970, S. 161. An anderer Stelle spricht Scholem vom »messianisch-anarchistischen« Judentum der Sabbatianer. (Judaica III, Frankfurt am Main 1973, S. 196).
22Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 190.
23Vgl. zu diesem Thema Michael Löwy, Robert Sayre: »Figures du romantisme anticapitaliste«. In: L’Homme et la Société, Nr. 69–70; 73–74, Paris, Publications de la Sorbonne, 1984.
KAPITEL 3
Parias, Rebellen und Romantiker:
Versuch einer soziologischen Analyse der jüdischen
Intelligenz in Mitteleuropa
Wie