Paul Keller

Die Insel der Einsamen


Скачать книгу

sich aber durch ein zweites Bauerngehöft, das dem ersten ähnlich war, irreführen und geriet tiefer in die Insel hinein.

      Von fernher kam ein leises Singen. Günther ging dem Klang nach. Er hörte bald, dass es eine gute, wohlgeschulte Stimme war, die da durch die Stille der Nacht sang. Noch unterschied er nicht die Worte des Liedes, aber wenige Schritte weiter sah Günther die Sängerin. Sie lehnte am alten Liebesbrunnen, der seinen hölzernen Arm hoch in die Luft streckte. So war also auch die Sage vom Sänger und seinem Edelliebchen kein blosser Traum, so war wirklich der grause Brunnenschacht vorhanden, über dem ein gefangenes Edelkind in eigener Todesnot den vielgetreuen Buhlen sterben sah? Ja, sass nicht dort selbst jenes schöne Mädchen im hohen Gras, ganz dicht am Brunnen? Das Mondlicht spielte mit prangendem Blondhaar, das lang herniederrann und in goldenen Wellen auf den Wiesengrund flutete. Musste es nicht jenes Schätzelein sein, um das es sich lohnte, jung zu sterben, war solche Schönheit zweimal auf der Welt?

      Das Lied war aus, die letzten Worte sprachen vom Scheiden. Die Sängerin, die am Brunnen lehnte, strich sich die grauen Haare aus der Stirn und wandte sich zu dem Mädchen:

      „Am besten wäre es, du hörtest niemals Lieder, Klotildis!“

      „Warum?“

      „Das Singen macht nur unglücklich. Wenn man ganz ruhig und friedlich ist, braucht man nur singen zu hören, und es ist aus mit der Ruhe. Man wird unruhig, man bekommt Sehnsucht. Ich wollte, ich hätte niemals einen Ton singen gehört.“

      „Aber du singst so schön. Das ist, weil du es gelernt und auf dem Theater gesungen hast.“

      „Rede nicht davon!“

      „Warum erzählst du mir nie vom Theater?“

      Die Sängerin trat dicht vor das Mädchen und sagte mit viel Bitterkeit:

      „Weil es das Elendeste ist von der ganzen Welt. Weil es junge Menschen anlockt, die voller Ideale, voll königlichen Hochsinns sind, Menschen, die ausgezeichnet sind mit Gütern, die andere nicht haben, und nie mit Geld bezahlen, nie durch Fleiss erwerben können, und weil das Theater diese Menschen zwingt, tausendmal ihre Seele zu enthüllen vor unreinen Augen, sich zu verkaufen und sie selbst langsam schlecht macht. Immer aus Not!“

      Das Mädchen zuckte die Achseln. Mit gleichmütiger Stimme sagte es:

      „Ich denke, so, wie du vom Theater redest, so ist es doch überall in der Welt. Mein Vater sagt: Die Menschen können nur sich selbst lieben; selbst wenn sie einmal etwas Gutes tun, lieben sie doch nur sich selbst; denn sie glauben, dass sie einen Lohn dafür bekommen. Und wenn sie anständig oder ehrlich sind, sind sie es bloss, weil sie Strafe erhalten, wenn sie es nicht sind. Der Eigennutz ist die Wurzel, aus der der ganze Baum des Lebens wächst, den Satz sagte mir mein Vater oft; man sollte nur Lohn und Strafe aus der Welt wegnehmen, und wir hätten lauter wilde Tiere.“

      Die grauhaarige Sängerin strich dem Mädchen über den Scheitel.

      „Wie ist das traurig, dass ein junges, schönes Kind so spricht! Dass es so früh die Wahrheit weiss!“

      Klotildis erhob sich; der Mond beleuchtete ihr Gesicht, das von reiner Schönheit und Frische war. Sie lachte und sagte:

      „Traurig — wieso? Ich mache mir gar nichts daraus. Ich rede auch gar nicht gern von solch dummen Dingen. Du hast mich bloss darauf gebracht, weil du vom Theater sprachst. Was geht mich all das an? Was geht es dich an? Wir leben auf der Insel und haben damit nichts zu tun. Wir sind draussen! Aber weisst du, manchmal möchte ich doch in die Welt und einmal diese wilden Tiere sehen.“ Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Wir hier auf der Insel haben ja nicht mal richtige wilde Tiere — nur ein paar Füchse. Ich schiesse nie einen Fuchs tot; die Füchse sind mir viel lieber als die zimperlichen Rehe oder gar die albernen Hasen. Wie ich das erste Mal hätte einen Fuchs schiessen können, war ich vierzehn Jahre alt. Ich hatte ihn gut vor der Büchse; aber er beschlich gerade einen Hasen, der in seiner Todesstunde nichts besseres vorhatte, als sich seine Löffel zu putzen. Da dachte ich: Friss ihn erst, dann werde ich dich schiessen. Und er frass ihn! Er zerkrachte ihm erst das Genick, dann riss er ihm den Leib auf, trank sein Blut —“

      „Klotildis!“

      „O, ich habe geschaut! Und dann, wie er satt war, wollte ich ihn schiessen; aber ich dachte, vielleicht fängt er wieder mal einen Hasen. wenn ich’s sehe, und ich liess ihn leben.“

      „Kind! Kind! Wenn das nur gut tut!“

      Die Sängerin fasste Klotildis an der Hand, und sie gingen noch ein paar Schritt näher auf Günther zu, der hinter einer Hecke stand. Die Wangen glühten dem jungen Mann. Er war ein Lauscher. Aber — wenn es auch erbärmlich, wenn es gemein gewesen wäre, er hätte sich nicht von seinem Platze rühren können. Nein! Deutlich hörte er in der tiefen Stille des späten Abends jedes Wort.

      Dann aber wandten sich die Frauen, gingen Arm in Arm über die hellbeleuchtete Wiese und ihre Stimmen waren nicht mehr deutlich zu vernehmen. Günther schaute ihnen nach und rührte sich noch immer nicht vom Platze.

      Plötzlich knackte es im Gesträuch. Ehe sich Günther umwenden konnte, fühlte er, dass sich zwei riesige Pranken um seinen Hals legten, und eine mächtige Stimme brüllte:

      „Ich hab’ einen! Ich haaab’ einen! Zu Hilfe! Ich hab’ einen gefangen!“

      Günther machte sich mit einem kräftigen Ruck frei und sah sich Lukas, dem Mann mit der magnetisierten Lanze, gegenüber. Dieser fuhr fort zu brüllen und fasste Günther aufs neue. Im Kämpfen gerieten beide auf die offene Wiese, stolperten über des Polizeimanns grosse Lanze und wälzten sich bald darauf im Grase.

      Mit einem langgezogenen schrillen Freudenschrei stürmte Klotildis über die Wiese.

      „Wen hast du? Wer ist das?“

      „Ich — ich weiss nicht —“ keuchte der Polizist; „ich habe halt einen — ich halte ihn fest — oooh —“

      Günther befreite sich mit einer geschickten Wendung und stand auf den Füssen Er hielt die Lanze in der Hand und drohte dem sich ebenfalls erhebenden Kriegsmann.

      „Vergreif’ dich nicht mehr an mir, oder ich jage dir die eigene Lanze durch den Leib, du Esel!“

      Da grunzte der Polizeimann halb drohend, halb überrascht und furchtsam, dann schrie er:

      „Ich hole den Oberst! Ich hole den Oberst!“ und jagte auf seinen Riesenbeinen davon.

      Günther sah ihm nach, machte dann eine Verneigung vor Klotildis und sagte:

      „Ihr habt keine gute Polizei hier, Komtesse. Aber es ist selbstverständlich, dass Ihr mir gegenüber gar keines Schutzes bedürft.“ Er warf die Lanze ins Gras. Klotildis bückte sich blitzschnell und ergriff die Waffe.

      „Nun bleibt stehen,“ sagte sie drohend, „oder Ihr sollt sehen, wer die Lanze durch den Leib bekommt, Lukas oder Ihr!“

      Sie hielt ihm die Klinge dicht vor die Brust. Günther machte eine lässige Wendung, entwand ihr die Lanze mit leichter Mühe, schleuderte sie weit von sich und sagte lächelnd:

      „Gebt Euch keine Mühe! Ich bin kein Hase, und Ihr seid kein Fuchs.“

      „Ooh — ooh — er hat gehorcht — hörst du, Wanda, er hat gehorcht — pfui!“

      „Eine Waldwiese ist kein Boudoir, gnädiges Fräulein!“

      „Wie konntet Ihr Euch erdreisten, diese Insel zu betreten?“ herrschte sie ihn an.

      „Ich bin ein Wandersmann,“ sagte er gemütlich; „und die Welt ist frei. Selbst des Kaisers Gärten stehen offen.“

      „Aber diese Insel steht nicht offen, Ihr werdet es büssen!“

      „Nun, so werde ich es büssen!“

      „Wenn Ihr einen Kahn hier habt, wie ich vermute, so macht, dass Ihr fortkommt,“ riet ihm nun die Sängerin; „es ist streng verboten, die Insel zu betreten, und Ihr setzet Euch der grössten Gefahr aus. Es war unrecht von Euch, dass Ihr