nenne seinen Namen nicht. Er wird Euch töten.“
„Ah,“ rief Günther fröhlich; „mich hat noch keiner getötet, der mich zum Zweikampf gefordert hat.“
„Geht!“ sagte sie und machte eine Handbewegung, die eine Verabschiedung ausdrückte.
Günther verneigte sich vor ihr.
„Ich danke Euch für Eure Güte, Madame,“ sagte er und ging.
Ein Waldweg führte dicht am Flussufer hin; Erlengebüsch und Ulmenbäume säumten ihn ein. Der Weg war mit Gras bewachsen, und Günthers Schritt blieb unhörbar. Einmal zuckte er vor einer weissen Gestalt zurück; er erkannte aber bald, dass es eine verwitterte Bacchusfigur war, wohl ein Denkmal aus fröhlicher Zeit. Jenseits des Flusses ging der Mond auf. Es war noch nicht lange nach Vollmond, und so war das Licht ganz hell. Sehr vorsichtig ging Günther, immer im Schatten der Bäume. Bei einer Walddichtung blieb er stehen. Im klaren Mondschein lag eine Wiese, und mitten darauf sassen zwei Männer. Der eine war wie ein Soldat aus Kaiser Josephs Zeiten gekleidet und hielt eine Lanze, deren Schneide sein Kumpan, ein kleines, dürres Männlein im Handwerkerkittel, mit regelmässigem Streichen rieb, wobei das Männlein laut zählte: „90, 91—98, 99, 100!“
„100mal — nun wollen wir sehen, ob sie magnetisch ist!“ sagte das Männchen.
„Ja, das wollen wir sehen,“ erwiderte der Kriegsmann und nahm einen riesigen Schlüssel aus der Tasche, den er an die Klinge der Lanze hielt; der Schlüssel fiel ins Gras.
„Bist wohl verrückt, Lukas?“ schrie der Handwerker; „vielleicht willst du gleich Marzells Ambos an die Klinge hängen! Da sieh her“ — er nahm etwas Feines, Blinkendes aus der Tasche — „da sieh her, wie das hängt, wie ich sie dir magnetisch gemacht habe!“
„Für so einen Stüber gebe ich dir doch meine Tabaksdose nicht,“ knirschte Lukas, der Krieger, unmutig; „da klebe ich mir ja, wenn ich will, mit Spucke viel schwerere Dinge an meine Lanze und brauche deinen Magnet nicht. Streiche sie tausendmal, und ich werd’ mir’s mit der Dose überlegen!“
„Den Buckel werde ich dir streichen, du Lump!“ schrie jähzornig der Kleine. „Entweder du gibst mir augenblicklich die Dose oder ich streich dir die Lanze gegen den Strich und mache sie unmagnetisch.“
Der Kriegsmann das hören, seine riesige Gestalt aufrichten und mit seiner magnetisierten Lanze Reissaus nehmen, geschah alles in drei Sekunden. Der andere drohte in ohnmächtigem Zorn mit seinem Magnetstab hinter ihm her und wünschte alles Unheil der Welt über das Haupt des Betrügers. Dann legte er sich lang ins mondbeglänzte Gras und begann zu schluchzen.
Günther lachte leise. „Das sind ja Kinder,“ dachte er. Der Riese war wohl einer der Polizisten und Inselwächter, von denen Kajetan gesprochen hatte. Der liess sich also bei Mondschein seine Lanze „magnetisch“ machen und hatte keine Ahnung, dass mittlerweile ein Eindringling die verbotene Insel betreten hatte. Mit viel weniger Vorsicht ging Günther weiter. Der Weg führte ins Innere der Insel. Ein Bauernhof wurde sichtbar, ein Bild des Friedens. Das Mondlicht brach sich in den kleinen Fensterscheiben, ein Storch stand schlafend hoch auf dem Dachfirst, ein Hund steckte neugierig den Kopf aus seiner Hütte, zog ihn aber bald zurück. Ein Stückchen weiter lag eine Kuhherde auf der Weide; die schönen buntgescheckten Tiere schliefen oder kauten mit geschlossenen Augen, kaum, dass einmal der Klang einer Glocke verloren durch die Stille klang. Kein Wächter war bei den Kühen; der Hirt schlief in seiner Kammer, der Hund in seiner Hütte.
Nun stieg der Wald bergan. Zwei Hügel hatte die Insel; auf dem einen sollte die Kapelle stehen, auf dem anderen das alte Schlösslein. Welcher von den beiden Hügeln war es? Ein Weg stieg empor. Links und rechts war dichter Wald, der Weg war verwachsen von hohem Gras. Viele Jahre lang war hier keine Sichel, keine Harke mehr tätig gewesen. Dicke Stauden hatten den Weg überwuchert, die breiten Steinstufen, die den letzten Teil bergan führten, waren vom Regen verwaschen oder ganz unter Gras und Gestrüpp vergraben. Das war der Kapellenweg. Da hinauf war jahrzehntelang niemand mehr gegangen als vielleicht ein Jäger auf einsamer Pürsch. In alter Zeit, als die Marmorstufen noch weiss im Sonnenlicht schimmerten, waren hier Scharen frommer Christen singend und betend zur Gnadenkapelle gezogen, Priester und Volk, mit Fahnen und in bunten Gewändern, die Hymnen hatten über die Insel und über das Wasser geschallt, und tausend Herzen waren voll Andacht und Hoffnung gewesen; mancher auch war in tiefer Reue über eine dunkle Stunde im Leben von einer Stufe auf die andere gekniet, um Gnade zu finden und den Frieden des Herzens wiederzuerlangen.
Vergangen, verloren, vergessen! Die Farnkräuter, die zwischen den Stufen wuchsen, waren wie Palmwedel auf dem Grabe einer toten Zeit. Alle, die hier gebetet, gesungen und geweint hatten, waren weit über alle Berge und Hügel der Welt, und die letzte Frau, die hier hinaufeilte, in Todesnot, in Verzweiflung, und der letzte Mann, der ihr folgte, das wilde, schreiende Weh im Herzen und das Messer in der Hand — auch sie waren schon lange still geworden. Wie vergänglich ist der Mensch auf dieser Erde, ein Baum überdauert ihn, die Steinstufe wird hundertmal älter als der Menschenfuss, der sie tritt. Alles stolze Lachen und alles wehe Weinen verweht im Wind, ja, alles was heut gross und trotzig ist und zum Anbeten schön oder zum Verzweifeln schrecklich, ist flüchtiger als der Wind, denn der Wind weht jeden Tag, und was unser ist, ist eine kleine Weile, verschwindet in Vergessenheit und kehrt nie wieder. Kaum, dass aus den Tausend und Millionen Geschehnissen, die auch die kleinste Menschensiedelung hat, einmal eines im Gedächtnis der Menschen stehen bleibt, wie ein altes, totes, nicht mehr gebrauchtes Haus, und mit seinen ruinenhaften Umrissen einen späten Wanderer schreckt oder neugierig macht.
Günther stieg im Andenken an den tollen Grafen, der sein Weib in den Tod hetzte, den Kapellenberg hinauf. Und er fand das alte Kirchlein. Es war ein runder Backsteinbau von geringem Umfang; rechts und links hatte es ein Rundbogenfenster, das spitz zulaufende Dach trug kein Kreuz mehr. Das hatte wohl der Sturm heruntergebrochen. Aber die Fenster waren noch ganz, und die Tür war noch fest. Obwohl Günther überzeugt war, dass die Tür verschlossen sei, drückte er doch fest auf die Klinke. Da gab es einen schrillen Laut, wie den hässlichen Schrei eines Tieres, die Tür sprang auf, und dumpfe Moderluft quoll aus dem Raum, der durch das einfallende Mondlicht gut erhellt war. Günther wich erst ein wenig zur Seite, dann nahm er den Hut ab und trat in die Kapelle. Rechts und links standen zwei Reihen von Bänken, steif und feierlich, wie offene Särge. Im Hintergrund war der Altar. Über den Altartisch war ein schwarzes, arg verstaubtes Tuch gebreitet, das leere Tabernakel stand offen, die eine Hälfte seiner kleinen Tür war ausgebrochen, vier Leuchter lagen umgeworfen mit ihren gelben Kerzen auf dem Altar, eine alte Lampe ohne Licht hing von der Decke herab. Das Altarbild an der Wand war von tiefem Staub bedeckt, es war kaum noch zu erkennen, dass es eine Madonna darstellte; aber das Kreuz stand noch auf dem Altar, schief vornübergeneigt war es, als ob es die Last des sterbenden Heilands nicht länger ertrage.
Günther stand inmitten der Kapelle still. Schwere Gedanken bedrückten ihn. Das war die Kirche der Einsamen, war die Kirche des alten Grafen da unten, das Denkmal an das schreckliche Geschehnis, das seine Jugend und sein Leben verdüsterte, da der Vater die Mutter erschlug und die Kapelle entweiht wurde. Wurde auch sein Herz entweiht, war es auch so ein verlassener Tempel Gottes, in dem die Leuchter umgefallen waren und das Tabernakel leer stand, in dem alles, was fromm, lieb und gut war, unter Staub und Moder vergraben wurde? War es so ganz entgöttert, so ganz verloren, oder war noch unter Staub und Schutt ein heiliges Erinnern in ihm wie ein altes Bild; stand noch ein windschief Kreuzlein in seinem öden Raum?
Der junge Mann wandte sich rasch zum Gehen, und wie er die Tür schloss, war es wieder wie ein hässlicher Schrei, und dann war alles still. Ein fahrender Händler hatte Günther von der Blutkapelle erzählt und auch, dass jene unglückliche Frau bei ihr begraben sei. Ihr Grab würde nicht zu finden sein, meinte Günther. Vielleicht hatten die Leute der Sünderin keinen Hügel gegönnt, oder wenn sie doch einen gewölbt hatten, so würde er versunken sein, verwaschen vom Regen, zertreten von rohem Volk.
Langsam ging Günther um die Kapelle und blieb erstaunt stehen, als er einen Grabhügel sah, der ganz frisch schien; ein Strauch von roten Rosen blühte an seinem Kopfende, und zwei Kränze von ganz frischen Blumen lagen auf ihm.
Wer pflegte dieses Grab? Wer dachte in Liebe