Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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aber vor allem eine Studie über Lehrer*innen, die ihren eigenen Unterricht weiterentwickeln wollen – und darüber, wie die Schule als Organisation und gesellschaftliche Institution eine derartige Initiative unterstützt oder erschwert. Für dieses Unterfangen sind die Innenperspektive der Lehrer*innen und die Außenperspektive der Forscher*innen in gleicher Weise notwendig. Daher ist es sehr wichtig, dass diese beiden Perspektiven sowie die jeweiligen Ausgangssituationen und Ziele der Lehrer*innen und Forscher*innen transparent werden. Die folgende Einleitung ist daher in zweierlei Weise narrativ. Zum einen erzählt sie in kurzen Zügen die Geschichte des Projekts. Zum anderen greift sie auf einige, erst später rekonstruktiv aus den Interviewdaten zu gewinnende, Befunde vor, um zu illustrieren, auf welche Problemlagen die Lehrer*innen reagiert haben, als sie sich auf den Weg zu Kooperativem Lernen machten. Am Ende der Einleitung wird das Erkenntnisinteresse der Studie formuliert, das später im Theoriekapitel konkretisiert und in Forschungsfragen überführt wird.

      1.1 Auftakt des Projekts

      In diesem ersten Abschnitt des Kapitels wird die Geschichte der ersten Phase des Projekts erzählt. In diesem Teil soll die Ausgangssituation aller Beteiligten1 so plastisch wie möglich dargestellt werden. Es soll deutlich werden, wie der Projektstart verlaufen ist, damit sich ein Bild ergibt, warum die verschiedenen Beteiligten – also vor allem die Lehrer*innen und Forscher*innen – welche Entscheidungen getroffen haben. Das ist besonders notwendig, weil wir folgende Erfahrung gemacht haben: Wo auch immer wir über unser Projekt gegenüber universitären Kolleg*innen berichtet haben, wurde uns die Frage gestellt, warum wir den beteiligten Lehrer*innen keinen Begriff von Kooperativem Lernen vorgegeben haben und wie wir kontrollieren konnten, was diese tatsächlich unterrichteten. Vorgaben und Kontrollen entsprachen nicht unserem Anliegen, waren aber auch innerhalb unserer Forschergruppe immer wieder Thema intensiver Debatten. Überspitzt kann man ja die Frage stellen, woher man denn wissen will, was eigentlich beforscht wird, wenn die Lehrer*innen machen, was sie wollen. Am Ende des Kapitels ist diese Frage hoffentlich einigermaßen zufriedenstellend beantwortet.

      1.1.1 Die Perspektive der Lehrer*innen

      Als erstes sollen aber nun die Lehrer*innen zu Wort kommen. Wie stellt sich der Projektstart aus ihrer Sicht dar? Welche Ziele hatten sie zu Beginn? Was verstanden sie am Anfang unter Kooperativem Lernen? Zuallererst ist das Projekt für sie der Versuch, dem alltäglichen ‚Zirkus‘ ein Ende zu machen. Zirkus aber nicht einfach so, im Sinne der Redensart, alles trubelig und durcheinander. Silke Borg und Yvonne Kuse sind da sehr viel klarer in ihrer Auffassung1: Ihre Auftritte vollziehen sich in zwei verschiedenen Rollen. Vor allem Silke Borg sieht sich oft als „Pausenclown“, der auf der Bühne „herumturnt“, um „Lerninhalte zu vermitteln“. Und beide sind auch im Raubtierkäfig tätig, denn sie sehen sich als „Dompteure“. Das ist insofern schon besser als der Pausenclown, da ein Dompteur wenigstens zum Hauptprogramm gehört und nicht versuchen muss, die Zuschauer*innen zu unterhalten, während sie sich mit Getränken und Popcorn versorgen oder zur Toilette gehen. Aber auch die Dompteurstätigkeit ist extrem anstrengend. In der Manege selbst lauert dauernd die Gefahr, dass ein Raubtier (auch im Rücken des Dompteurs) zum Sprung ansetzt, so dass die Lehrer*innen dauernd unter hoher Anspannung stehen. Zum anderen wollen die Tiere permanent „gefüttert werden“ und machen keine Anstalten, sich selbst um ihr Fressen zu kümmern.

      Was genau ist mit diesen Metaphern gemeint? Das Bild des Pausenclowns steht bei beiden Lehrerinnen in Zusammenhang mit einem Gefühl des Ausgesetztseins und der Notwendigkeit, ein Publikum – also die Schüler*innen – dauerhauft begeistern zu müssen. Silke Borg verwendet dazu auch das Bild des „Entertainers“. Dessen Arbeitsplatz ist die „Bühne“ und auf ihn sind die Scheinwerfer des „Rampenlichts“ gerichtet, wodurch er die Menschen im Publikum eigentlich gar nicht einzeln sehen kann. Dieser Aspekt wird bei der näheren Analyse (vgl. Kap. 5) noch zu betrachten sein, denn dieser Effekt wird nicht – wie im Bild des „Entertainers“ impliziert – von außen, sondern eher durch Silke Borgs Unterrichtsbild, und damit von innen, verursacht. Die Aufgabe einer Lehrer*in als „Entertainer“ ist es, die Schüler*innen permanent zu „begeistern“ und „mitzureißen“. Das ist anstrengend, auslaugend und verlangt dauernde Kreativität.

      Und der Dompteur? Was hat er mit Unterricht zu tun? Zum einen sehen sich die Lehrer*innen tatsächlich mit Wildheit bis hin zu Gewalt konfrontiert, so wie sie im Bild des Dompteurs mit seinen Raubtieren enthalten sind. Yvonne Kuse beschreibt dazu Situationen, in denen ein Schüler in der Klasse immer wieder „geschlagen, getreten, gespuckt und geschimpft“ hat. Zum anderen drückt sich darin auch eine dauernde Anspannung aus, in der die Lehrer*innen mit einem unkontrollierbaren Ausbruch oder Angriff rechnen. Dies ist das genaue Gegenteil von Autonomie, die ja eigentlich zum Kernbestand professionalisierter Berufe (vgl. Kap. 2.2) gehört. Im Unterricht verlieren Yvonne Kuse und Silke Borg also genau jene Selbstbestimmung, die sie eigentlich für die Ausübung ihres Berufs brauchen.

      Und die Schüler*innen? Die haben ihre Autonomie auch verloren. Sie lassen sich mit Lernstoff füttern und verhalten sich weitgehend passiv – von den beschriebenen Einzelausbrüchen abgesehen. Die Metapher des Fütterns ist in Bezug auf die Schüler*innen keinesfalls nur harmlos oder niedlich. Gefüttert werden Babys, Greise und Schwerkranke. Im positiven Sinne ist darin enthalten, dass die Lehrer*innen eine große Verantwortung für Ihre Schützlinge übernehmen, dass sie sich um sie kümmern und sich ihnen zuwenden. Das Bild drückt aber auch aus, dass die Schüler*innen von den Lehrer*innen nicht nur als geistig und körperlich unterlegen gesehen werden, sondern dass sie aus Sicht der Lehrer*innen auch keine Selbständigkeit besitzen. Und das was da verabreicht wird, sind auch keine anspruchsvollen Inhalte, sondern „Informationen“. Es gibt also auch nichts zu kauen, sondern es wird Brei geschluckt: memorieren statt denken.

      Bemerkenswert ist dabei, dass anscheinend niemand durch äußere Anweisungen zur Dompteurstätigkeit gezwungen wird. Weit und breit ist kein Zirkusdirektor zu sehen, der zum Peitschenschwingen antreibt. Silke Borg sagt vielmehr, dass sie das „Gefühl [hat] ich muss irgendwie Dompteur sein und immer Input geben“. Der Zirkusdirektor ist also schon vor langer Zeit zum inneren Feind geworden. Innere Notwendigkeit statt äußerer Zwang. All dies wird den Lehrer*innen erst im Projekt ansatzweise bewusst. So führt Silke Borg aus, dass die Fütterhaltung der Schüler*innen ihr im Projekt besonders auffalle. Die in dieser Art von Unterricht enthaltene Verachtung der Schüler*innen karikiert sie in einem fiktiven Lehrerstatement: „So, habt ihr verstanden? Ja? Super, weiter zum nächsten Thema, wenn nicht: Pech gehabt, müsst ihr nachlernen und übrigens: Wir schreiben in zwei Wochen ne Arbeit.“

      Die von den Lehrer*innen formulierten Einsichten bleiben in gewisser Weise noch äußerlich. Zwar machen Yvonne Kuse und Silke Borg die mögliche Verantwortung der Schule für die Passivität der Schüler*innen explizit. Aber die Einsicht, dass die Schule sich ihre Raubtiere, Dompteure und Pausenclowns selbst macht, wirft natürlich die Frage auf, wie das genau vonstatten geht und welche Rolle Silke Borg und Yvonne Kuse dabei spielen. Denn zwischen den Zeilen deuten sie an2, dass sie auch selbst das präsentierende Lehren, das Verfüttern und Abprüfen von Informationen, das Voranschreiten im Stoff und die dauernde Ergebnissicherung verinnerlicht haben.

      Im Laufe des Projekts hat sich dies verändert. Zug um Zug ist den Lehrer*innen deutlicher geworden, in welchen Abhängigkeiten sie stehen, von welchen Überzeugungen und verinnerlichten Zwängen ihr Handeln beeinflusst wird, welche Werte sie verfolgen und an welche Grenzen sie stoßen. Das hat ihnen niemand erklärt, sondern zu diesen Einsichten sind sie selbst gekommen. Und noch eine Geschichte wird dort erzählt. Zusammen mit dem Verständnis ist nämlich auch eine teilweise neue Praxis entstanden. In welchem Verhältnis die beiden Seiten – neues Verständnis und neue Praxis – zueinander stehen, ist erst im Laufe der Zeit deutlich geworden. Dass es eine Herkulesaufgabe ist, wurde aber gleich zu Anfang klar. Es zeigte sich nämlich, dass Yvonne Kuse die von ihr kritisierte gymnasiale Normalität derart tief verinnerlicht hatte, dass sie davon bei ihrer Unterrichtsplanung, trotz explizit anderer Ziele, zunächst nicht abweichen konnte.

      Ihren Berichten zufolge hat sich Folgendes mehrfach zugetragen: Nach ihrem Schultag und womöglich noch nach einer Konferenz setzt sich Yvonne Kuse (zum Kummer ihres Mannes) an ihren Schreibtisch und plant die Englischstunde für den