Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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kooperativ noch individualisierend ist. Obwohl dies doch ihre erklärte Absicht war. Sie blickt zur Uhr, sie holt tief Luft, und beginnt von vorn. Sysiphos! Im Laufe des Projekts wird Silke Borg etwas ganz ähnliches widerfahren – allerdings im Unterricht selbst. Aus beidem zusammen werden sich Einsichten zur Frage ergeben, wie das eigene Unterrichtsbild, und somit die eigenen Überzeugungen, mit dem Unterrichtshandeln zusammen hängt, oder eben auch nicht. Auch dazu mehr im Kapitel, das die Entwicklungen der beiden Gymnasial-Lehrerinnen über die gesamten drei Jahre rekonstruiert (Kap. 5).

      Die Ziele der Lehrer*innen für das Projekt stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der dargestellten Situation, mit der sie ganz und gar nicht zufrieden sind. Ein zentrales Ziel der beiden Gymnsial-Lehrerinnen ist es daher, ihre Klassenzimmer zu Orten zu machen, an denen Schüler*innen und Lehrer*innen selbstbestimmt aktiv sein können. Yvonne Kuse betont dabei besonders den Aspekt, dass die Schüler*innen Verantwortung übernehmen sollen: sich selbst anleiten, sich selbst prüfen, ihren Lernstand reflektieren. Dazu möchte sie den Schüler*innen die Kontrolle über ihr Arbeitstempo geben. Außerdem möchte sie erreichen, dass die Schüler*innen sich gegenseitig helfen. Silke Borg hat dieselben Ziele und macht deutlich, dass sie ihren Schüler*innen zukünftig das Recht geben möchte, in individualisierten Lernphasen selbst über ihr Arbeitstempo zu bestimmen. Auch sie meint, dass dazu die Schüler*innen selbst prüfen sollen, ob sie die bearbeiteten Inhalte verstanden haben. Dieses Verstehen ist das Kriterium dafür, sich anschließend einen neuen Inhalt vorzunehmen. In Bezug auf ihre eigene Rolle sind sich die Lehrer*innen ebenfalls einig: runter von der Bühne, weg mit Peitsche und Clownskostüm, raus aus dem Rampenlicht. Sie wünschen sich außerdem, nicht länger einziger Bezugspunkt bei Schwierigkeiten aller Art, sondern Moderator*in und Lernhilfe zu sein. Für Silke Borg steht über allem das Ziel, Schüler*innen und Lehrer*innen vom Druck zu befreien, der auf ihnen lastet. Insgesamt könnte man daher zusammenfassend sagen, dass sie sich nicht weniger vom Projekt verspricht, als dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien. Dass die Schule als Urheberin benannt wird, legt nahe, dass der Weg zu dieser Befreiung nur über eine Veränderung der Schule selbst vonstatten gehen kann.

      Welche Veränderungen haben die Lehrer*innen dazu im Sinn? Wie stellen sie sich ihren Unterricht zukünftig vor und was ist ihr Konzept von Kooperativem Lernen? Bei beiden Gymnasial-Lehrerinnen ist das beschriebene Ziel ein unmittelbarer Bestandteil des Konzepts. Im Zentrum steht die Übertragung von Verantwortung an die Lernenden. Beide sind sich außerdem darin ähnlich, dass ihre Unterrichtsbilder und auch ihr Unterricht kooperative, individualisierende und instruktivistisch-frontale Elemente enthalten. Explizit nennt Yvonne Kuse ihre Vorstellung „selbstgesteuertes Lernen“, und Silke Borg möchte, dass „eigenständiges und kooperatives Lernen möglich ist“. Darüber hinaus ist aber auch die von beiden Lehrerinnen so beschriebene frontale Normalität des gymnasialen Englischunterrichts präsent; sie betrachten sich als für die Sicherung von Inhalten und das stete Fortschreiten im Unterrichtsstoff zuständig. Bei beiden findet sich außerdem die Überzeugung, dass zu erfolgreichem Lernen im Englischunterricht ein gewisses Maß an frontaler Instruktion gehört.

      Unterricht in der Gesamtgruppe spielt daher bei beiden nach wie vor eine wichtige Rolle – allerdings auf unterschiedliche Weise. Bei Yvonne Kuse ist die gesamte Klasse Bestandteil und erster Bezugspunkt ihres Konzepts von Kooperativem Lernen. Deren Miteinander wird durch die Metapher „Klasse als Team“ ausgedrückt. Damit möchte sie sagen, dass Kooperatives Lernen dann gelingt, wenn die Vielzahl der unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler*innen füreinander verfügbar gemacht wird. Dementsprechend nennt sie auch die von ihr angestrebte Form des Unterrichts „selbstgesteuertes Lernen“ und betont damit den Pol der Lernerautonomie viel stärker als den der Kooperation. Gleichzeitig spielt frontal organisierter Unterricht mit der gesamten Klasse für sie eine wichtige Rolle. Silke Borg hingegen spricht von Beginn an davon, dass sie ihren Unterricht in Hinblick auf Vierergruppen organisieren möchte. Diese Gruppen sollen zusammen sitzen und arbeiten. Auch sie aber hält frontale Phasen mit der gesamten Lerngruppe für notwendig und sucht nach einer Sitzordnung, in der beides möglich ist. Diese differenzierten und komplexen Vorstellungen der Lehrer*innen gehen eindeutig über kleine Mikromethoden zur situativen Herstellung von Kooperativität hinaus. Im Theorieteil erfolgt daher eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kooperativen Lernens, um der zu erwartenden Komplexität auch konzeptuell gerecht zu werden.

      Damit sind Ausgangssituation, Ziele und Vorstellungen der Lehrer*innen erörtert. Das Projekt kann also beginnen. Der erste Akt, der eigentliche Projektbeginn, erfolgt im Winter 2007. Silke Borg als Initiatorin an ihrer Schule knüpft an die positiven Erfahrungen mit einer zuvor existierenden Gruppe zur Unterrichtsentwicklung in der gymnasialen Oberstufe an und macht sich Gedanken dazu, wie dies auf die Mittelstufe übertragen werden könnte. Thomas Gaber, Lehrer einer Hauptschule, beschäftigt die Frage, wie er seine Schüler*innen für die bildungsadministrativ vorgesehene neue Kompetenzprüfung in Klasse 9 zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fit machen könnte, in der die Schüler*innen in vorgebenen Rollen (z. B. als Tourist, der sich über die Sehenswürdigkeiten einer Stadt informiert) auf Englisch kommunizieren müssen. Über die jeweils involvierten Hochschullehrer*innen einer Universität und einer Pädagogischen Hochschule kommt es rasch zu einer Vernetzung der zunächst unabhängig voneinander begonnenen Projekte. Alle Seiten erkennen schnell, dass sie von ähnlichen Fragen umgetrieben werden und beschließen, daraus ein Projekt der Unterrichtsentwicklung und Forschung zu machen. Es läge sicherlich nahe, Aktionsforschung zu betreiben. Es wäre auch möglich, es in die fachdidaktische Entwicklungsforschung einzubringen. Beide Ansätze aber würden das Lehr-Lern-Geschehen selbst und damit die systemische Mikroebene (Fend 2006) in den Vordergrund rücken. Alle Beteiligten sind sich jedoch einig, dass damit keine Brille für die Wechselwirkungen der Unterrichtsentwicklung mit den schulischen Strukturen und für die Entwicklung der Lehrer*innen vorhanden gewesen wäre. Und darum geht es allen am allermeisten.

      Zu Beginn des Projekts greifen die Lehrer*innen jeweils auf Vorerfahrungen mit Unterrichtsentwicklung zurück, denn an ihren Schulen hatte es bereits punktuelle Entwicklungsvorhaben gegeben, z. B. zur Entwicklung jahrgangsbezogener Curricula. Nach intensiven Gesprächen über diversen Tassen Tee und Kaffee werden Lehrer*innen und Forscher*innen sich einig, dass im Zentrum des Projekts die Entwicklung von Unterrichtsmaterial für das Fach Englisch stehen müsse. Auch kommt man schnell überein, dass es sinnvoll wäre, zunächst eine Pilotphase in Klasse 5 von wenigen Wochen Dauer zu planen und danach zu überlegen, ob das Ganze tragfähig sei. Die Lehrer*innen würden den didaktisch-methodischen Rahmen stecken und ihre Wünsche äußern. Die Hochschullehrer*innen würden diese Vorstellungen im Rahmen von Seminaren zu Kooperativem Lernen aus Sicht der Englischdidaktik bzw. Schulpädagogik gemeinsam mit ihren Studierenden in Material in Form von Arbeitsblättern umsetzen, die die Lehrer*innen dann in ihrem Unterricht verwenden oder noch verändern könnten. Organisatorisch ist die Sache also schnell in trockenen Tüchern.

      Aber wie steht es um die Inhalte? Es wird rasch klar, dass Silke Borg durch Gespräche mit einer befreundeten Lehrerin ein Konzept von Individualisierung im Kopf hat. Besonders fasziniert ist sie von der Idee, dass die Schüler*innen in diesem Konzept selbst bestimmen dürfen, wann sie sich Leistungskontrollen unterziehen wollen. Thomas Gaber möchte mit Hinblick auf die Kompetenzprüfung vor allem, dass die Schüler*innen in seinem Unterricht höhere eigenständige Sprechanteile in der Fremdsprache erhalten. Die Forscher*innen hingegen haben stärker kooperative Vorstellungen im Kopf: Also Gruppenarbeit als routinisierte Arbeitsform in verschiedener Gestalt von Think-Pair-Share bis Projektarbeit. Schon hier ist aber vollkommen klar, dass die am Projekt beteiligten Lehrer*innen ihren Weg letztlich selbst finden und gehen sollen. Es kommt allen darauf an, zu einem für die Lerngruppen und die Schule im Alltag umsetzbaren Konzept zu gelangen und nicht ein methodisches Raumschiff zu landen. Am Ende der zahlreichen Gespräche kommen alle überein, das Projekt anzugehen. Thomas Gaber wird seinen Kollegen Christoph Schiers, Silke Borg ihre Kolleginnen Yvonne Kuse und Anke Rolffs anfragen, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. Die Forscher*innen würden nach weiteren Mitstreiter*innen an der Universität bzw. Hochschule suchen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass beide Seiten Lernende sein werden, denn die Forscher*innen nahmen den Impuls der Lehrer*innen auf, auch Individualisierung zu berücksichtigen und fanden in der Forschungsliteratur einen engen Zusammenhang zwischen beiden Formen wieder (vgl. Kap. 2.2).