Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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Lernens, dass die Lehrer*innen des Projekts mit ihren Konzepten nicht allein standen. Zweitens verdeutlichten die Unterrichtsrekonstruktionen, dass sicher geglaubte Eindeutigkeiten sich als gar nicht so sicher erwiesen. So zeigte die Analyse der ersten Unterrichtsstunden von Yvonne Kuse, dass man sehr wohl positive Abhängigkeit herstellen kann, ohne den Unterricht in Kleingruppen zu organisieren. Allgemein gesprochen: Man kann die Basiselemente Kooperativen Lernens mindestens teilweise auch ohne Gruppenarbeit umsetzen. Ist das dann kooperativ, weil positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit bestehen? Oder ist es nicht kooperativ, weil zu wenig face-to-face-Interaktion gegeben ist? Dieses Nachdenken auf Universitätsseite hat die Lehrer*innen natürlich nicht davon abgehalten, ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Die Forscher*innen, glücklich den rekonstruierten Unterricht nun auf den Begriff bringen zu können, staunten daher nicht schlecht, als sie für die Aufzeichnungen in Klasse 7 schon wieder neue Begriffe brauchten, denn Yvonne Kuse hatte ihren Unterricht anscheinend radikal umgekrempelt. Zumindest auf der Oberfläche war das so. Bei tieferer Bohrung zeigte sich aber, dass sie mit den Mitteln des Kooperativen Lernens nur neue Inszenierungsmöglichkeiten ihrer auch im dritten Jahr einigermaßen stabilen pädagogischen und didaktischen Überzeugungen gefunden hatte. Dies wiederum macht deutlich, dass die Konzepte der Lehrer*innen als Arbeitstheorien mit impliziten und expliziten Wissensanteilen aufgefasst werden können, mit denen sie ihre Praxis konzeptualisieren, die sich mit ihrer Praxis entwickeln und sich aus einerseits stabilen und andererseits veränderbaren Anteilen zusammensetzen.

      Mit der letztgenannten Arbeit am Begriff beginnt das folgende Theoriekapitel. Darin wird der Begriff der Kooperativität diskutiert und der relevante Forschungsstand präsentiert. Außerdem wird ein Überblick über die Teilstudien und deren Wechselwirkungen gegeben.

      2. Theorierahmen und Forschungsstand

      In der Einleitung wurde das Erkenntnisinteresse benannt, dem dieses Projekt nachgehen wollte. Dies ist bisher so gut es ging aus der Sicht der Beteiligten geschehen. Um diese Fragen wissenschaftlich bearbeiten zu können, sind drei Schritte notwendig. Erstens: Existierende Theorien und Modelle zum Kooperativen Lernen (KL) mit ihren Begriffen und methodischen Werkzeugen diskutieren. Zweitens: Den bisherigen Forschungsstand erheben und auf dieser Basis die Fragen präzisieren. Drittens: Einen für diese Untersuchung sinnvollen Ansatz konstruieren und in einen Forschungsplan umsetzen. Im folgenden Teil werden daher nacheinander der Begriff des KL, dazu existierende theoretische Ansätze und empirische Befunde zu dessen schülerseitigen Wirkungen diskutiert. Darauf folgt ein Blick auf die Rolle der Lehrer*innen beim KL. Abschließend wird der Standpunkt der vorliegenden Untersuchung in diesen vier Bereichen bestimmt. Das Kapitel schließt mit einer Präzisierung der Forschungsfragen.

      2.1 Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens

      Schulentwicklung und insbesondere Expansionen des Bildungssystems sind meist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann Bildung zu Emanzipation und sozialem Aufstieg bislang unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen sowie zur Verbreitung demokratischer Werte beitragen. Andererseits bilden Schulsysteme die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen ab und verstetigen bestehende Hierarchien. Während sowohl Comenius’ Credo „Alle alles zu lehren“ und auch die Humboldtschen Reformen in Preußen das pädagogische Ziel hatten, durch Bildung die Lebensverhältnisse des Einzelnen zu verbessern, zeigen u.a. Foucaults Analysen (z. B. 1994 [1976]), wie der Ausbau des Schulsystems mit der Schaffung einer Haltung der Gouvernementalität dazu führt, dass aus durch Androhung äußerlicher Züchtigung beherrschten Untertanen durch verinnerlichte Verhaltensimperative sich selbst disziplinierende Bürger*innen werden. Bis in die 1960er Jahre hinein war in den westlichen Industriestaaten außerdem die Unterscheidung zwischen einer elitär-akademischen Gymnasialbildung für wenige und einer grundständigen, auf das Arbeitsleben vorbereitenden Volksschulbildung für die breite Masse zementiert. Gesellschaftliche Hierarchien verstetigten sich schon allein dadurch, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht über die Mittel für einen kostspieligen gymnasialen Bildungsgang ihrer Kinder verfügte. Im Volksschulbereich und auch in den Bildungsinitiativen der Arbeiterbewegung in den industriellen Zentren war Bildung aufgrund der zu bewältigenden Schülerzahlen außerdem stets Frontalunterricht, um mit begrenzten Mitteln möglichst viele Kinder zu erreichen.

      Nach im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgebrachten Zweifeln an der bestehenden Schulpraxis, kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Phänomene zusammen, die diese Praxis grundlegend kritisierten. Zum einen stellten Pädagog*innen aus unterschiedlichen Richtungen in Frage, dass das auf frontale Instruktion im geistigen Gleichschritt ausgerichtete Schulsystem funktional ist. So kritisiert Dewey (z. B. 2008 [1916]) in seinen bildungstheoretischen Überlegungen, dass das existierende System seiner Aufgabe nicht gerecht werde, die für die Fortentwicklung des Gemeinwesens notwendigen Wissensbestände sowie demokratische Normen und Handlungsweisen angemessen weiterzugeben. Die Reformpädagogik entwickelte daher in dieser Zeit in unterschiedlichen Ländern alternative Schul- und Unterrichtsformen, die unter Nutzung von Konzepten wie Erfahrungslernen, Ganzheitlichkeit oder auch Naturnähe das hauptsächlich autoritär strukturierte Schulwesen ihrer Zeit zu verändern suchten. Zum zweiten lenkten politische Massenbewegungen und die von ihnen entwickelte gesellschaftliche Dynamik, wie die Revolutionen und Systemwechsel nach dem ersten Weltkrieg oder auch der aufziehende Faschismus in Italien oder Deutschland, das Interesse auf das Verhalten von Menschen in Gruppen. Soziologen wie Mannheim (z. B. 1995 [1929]) fragten sich, in welcher Weise die, im Verlauf ihrer Biographie in sozialen Gruppen, von Menschen erworbenen Wissensbestände ihr Handeln beeinflussen. Psychologen wie Allport (1924) untersuchten, wie das situative Handeln von Menschen davon abhängt, ob sie allein sind oder in einer Gruppe agieren. Zum dritten versucht die entstehende Lernforschung zu verstehen, welche Rolle Interaktion als Anlass von Perturbationen zur Auslösung kognitiver Konflikte (z. B. Piaget 1953 [1936]) bzw. als Quelle eines unterstützenden scaffoldings beim kollaborativen Erwerb von Wissen (z. B. Vygotsky 1988 [1934]) spielt.

      Es sind die im Anschluss an diese Entwicklungen entstehenden Ansätze der Forschung zur Gruppendynamik (z. B. May/Doob 1937; Deutsch 1949), die erstmals den unterschiedlichen Einfluss kompetitiver und kooperativer Zielstrukturen auf menschliches Handeln herausarbeiten, die als Geburtsstunde des KL, so wie wir es heute kennen, betrachtet werden (vgl. Gillies 2015; Johnson/Johnson 1994). Gillies/Ashman (2003, 5) sehen dieses Interesse in den 1950er Jahren durch eine intensive Hinwendung zum Individuum in der psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung abflauen. Erst in den 1970er Jahren sei dieses wieder stärker geworden, weil mehrere Untersuchungen zum peer-tutoring in den USA zeigten, dass die Interaktion von Lernenden miteinander zu erheblichen Lernzuwächsen führen kann. Die im Anschluss daran zahlreich durchgeführten Untersuchungen zu kollaborativen Lernformen sind dann in den 1980er Jahren in mehreren großen Meta-Studien zusammengefasst worden:

      The studies and reviews by Johnson et al. (1983), Johnson and Johnson (1985), Slavin (1989) and Sharan (1980) confirm co-operative learning as an effective teaching strategy that can be used to enhance achievement and socialization among students and contribute to enhance achievement towards learning and working with others, including developing a better understanding of children from diverse cultural backgrounds (Gillies/Ashman 2003, 8).

      Die Forschung wendet sich in der Folge verstärkt der Frage zu, durch welche Variablen, z. B. Vorwissen oder auch Art und Weise der kooperativen Interaktion die Effekte des KL beeinflusst werden. In Deutschland wird die Diskussion von KL im Anschluss an die erste PISA-Untersuchung enorm intensiviert. Gemeinsam mit Individualisierung als sogenannte „Neue Unterrichtsformen“ – die sie nun wirklich nicht waren (s.o.) – betrachtet und bezeichnet (vgl. Rabenstein/Reh 2007), wurde KL als wirksames Mittel der Unterrichtsentwicklung propagiert und als Herzstück zahlreicher Reformvorhaben implementiert (z. B. Brüning/Saum 2009). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht, für den sowohl praxisorientierte Handbücher (z. B. Wysocki 2010; Grieser-Kindel/Henseler/Möller 2006, 2009), als auch zahlreiche Unterrichtsvorschläge in Aufsatzform (vgl. Kap. 2.3) vorliegen.

      Mittlerweile hat sich der Hype gelegt, und selbst dort, wo es beinahe flächendeckend einzuführen versucht wurde, hat es nicht den Anschein, als sei die Schule neu erfunden worden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass auch KL mit grundlegenden Zielkonflikten