Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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die oft im Sinne eines Autonomie- und Selbstbestimmungszuwachses der Akteure entwickelt und eingesetzt werden, als Teil strategischer Machtbeziehungen untersucht und bezüglich der in ihnen reproduzierten Herrschaftsverhältnisse einer Kritik unterzogen werden“ sollten (Rabenstein 2007, 40). Dazu seien Foucaults Machttheorie und Diskursanalyse sehr gut geeignet, da sie mit der Idee der Gouvernementalität die Ausübung von Macht nicht notwendigerweise als Anwendung äußerer Gewalt, sondern vielmehr als Beeinflussung der Selbststeuerung der Individuen konzeptualisieren: „Es handelt sich also nicht nur um Techniken, Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was die Regierenden wollen, sondern um Techniken, die sowohl Zwang ausüben, als auch sicher stellen, dass das Selbst auf sich selbst einwirkt“ (ebd., 42). Dabei ist es sehr wichtig festzustellen, dass Macht an sich in diesem Modell nicht als notwendig negativ, sondern vielmehr als eine unhintergehbare interaktionale Tatsache aufgefasst wird. Negativ wird sie erst, wenn sie – z. B. in ausgeprägt asymmetrischen Konstellationen – in einseitige Herrschaft übergeht.

      In der Analyse zweier unterschiedlicher unterrichtlicher Phänomene zeigt sich, dass die sogenannten neuen Unterrichtsformen in der Tat neue Verhaltensimperative mit sich bringen. Während die ethnographische Unterrichtsforschung (Breidenstein 2006) herausgearbeitet hat, dass Schüler*innen in ihrem unterrichtlichen Handeln in erster Linie ein Lernaktivität suggerierendes Geschäftigsein zur Schau stellen, zeigen sich in den neuen Unterrichtsformen Reflexivität und individuelle Sinnkonstruktion als von den Schüler*innen darzustellende Prinzipien, gleichgültig, ob beides vorhanden ist oder nicht.

      Sich selbst als ein sich reflektierendes und entwickelndes Subjekt gilt es nach außen zu präsentieren […]. Eingeübt wird so auf Seiten der Schüler den schulischen Anforderungen – zumindest nach außen – einen subjektiven Bedeutungsgehalt zu unterstellen bzw. diesen zu demonstrieren (Rabenstein 2007, 47f.).

      Auf der Basis der vorgenommenen Analysen kann noch nicht endgültig festgestellt werden, ob die Imperative der Reflexivität und Sinnkonstruktion auch zu einer tieferen Auseinandersetzung und subjektiven Identifikation mit unterrichtlichen Gegenständen und eigenen Lernprozessen führen, oder ob der „Schülerjob“ (Breidenstein 2006) lediglich um eine neue oberflächlich darzustellende Facette erweitert wurde. Die Untersuchungen zeigen aber sehr deutlich, dass Fragen der Macht und Herrschaft in den neuen Unterrichtsformen – und damit auch beim KL – von großer Bedeutung sind. Sie legen außerdem nahe, dass sich Macht und Herrschaft hier in subtilerer Form als in äußerer Disziplinierung zeigen können, und dass dazu Konzepte wie z. B. Foucaults Gouvernementalität, die Macht als von außen bewirkte, aber innerlich vollzogene Selbstkontrolle der Subjekte auffassen, besonders geeignet sind.

      Dieser Befund ist auch relevant für das Verhältnis von KL und Individualisierung bzw. Lernerautonomie. Einerseits kann nämlich davon ausgegangen werden, dass KL und Individualisierung zwei Seiten einer Medaille sind. So wird vermutet, dass die Verinnerlichung des in kooperativen Lernumgebungen erhaltenen Feedbacks zu erhöhter Reflexivität in Bezug auf Inhalte und Lernprozesse führt, so dass Lernerautonomie gerade nicht in individualisierten, sondern v. a. in kooperativen Lernumgebungen mit interdependenter Interaktionsstruktur erworben werden kann (Benson 2001, 12, 14). Andererseits gibt Benson für Lernerautonomie zu bedenken, dass nicht die oberflächliche Sozialform, sondern vielmehr die tatsächlichen Interaktionsstrukturen und damit Machtverhältnisse entscheidend sind:

      Changes designed to give more control to learners are implemented in order to achieve reductions in unit costs and are accompanied by measures that ensure that little real power is actually transferred (Benson 2001, 19).

      Damit kommt die Forschung zu Lernerautonomie im Fremdsprachenunterricht zum selben Ergebnis wie die Schulpädagogik, indem sie es für die Beforschung neuer Unterrichtsformen für unverzichtbar erachtet, Interaktions- und Machtstrukturen in den Blick zu nehmen.

      Insgesamt lässt sich resümieren, dass es in der Forschung zu KL – insbesondere in den seit langem etablierten Ansätzen – Inkonsistenzen und blinde Flecken gibt. Zu deren Korrektur liegen aber sehr kluge Überlegungen vor, die in dieser Untersuchung berücksichtigt werden. Dadurch wird es möglich sein, für die einzelnen Teilstudien tragfähige theoretische Rahmungen zu entwickeln. Dies wird in der Zusammenfassung (vgl. Kap. 2.2.5) und in den folgenden Kapiteln konkretisiert.

      2.4 Forschungsstand

      Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Forschungsstand zu KL in Augenschein genommen werden kann. Die Darstellung beginnt mit den schülerseitigen Wirkungen des KL und stellt dann Forschungen zu Lehrer*innen und KL dar.

      2.4.1 Befunde der Lernerforschung

      Dabei kommt wieder die im vorangegangenen Teil erprobte Vorgehensweise zum Einsatz. Zunächst werden die von Johnson/Johnson (2015, 2003, 1994) umfassend zusammengetragenen Befunde referiert und dann aus aktuellen Studien ergänzt. Deren Metastudie (Johnson/Johnson 1994) und eigene Untersuchungen haben die Wirkungen von KL in vier Bereichen eindrucksvoll belegt: Herstellung einer sozial interdependenten Interaktionsstruktur, sowie positive Beeinflussung des fachlichen Lernens, der zwischenmenschlichen Beziehungen und der psychischen Gesundheit. Betrachtet man die einzelnen Bereiche genauer, so zeigt sich, dass der Grad ihrer empirischen Belegtheit sehr unterschiedlich ist. Demgemäß lassen sich die Wirkungen von KL in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe ist durch Metaanalysen, einer Vielzahl von Einzelstudien (z.T. im dreistelligen Bereich), abgesichert. Als gesichert kann man demnach betrachten, dass KL …

       … zu mehr Vertrauen in der Interaktionssituation selbst führt.

       … zu erhöhter Lernzeit und höheren fachlichen Leistungen führt.

       … zu erhöhter sozialer Unterstützung führt.

       … zu einem verbesserten fähigkeitsbezogenen und allgemeinen Selbstkonzept führt.

      Die zweite Gruppe von Wirkungen ist durch jeweils einzelne Untersuchungen belegt. Es könnte daher sein, dass KL unter bestimmten Bedingungen …

       … den Informationsaustausch unter den Schüler*innen intensiviert.

       … höhere Denkoperationen und das Auftreten bedeutungsvoller Interaktion fördert.

       … Lernmotivation, positive Einstellung zum Fach und Unterrichtszufriedenheit steigert.

       … die Fähigkeit zu Perspektivübernahme und soziales Lernen allgemein fördert.

      Die übrigen Aussagen zu möglichen Wirkungen werden entweder rein argumentativ begründet oder nur durch jeweils eine Referenz belegt. Sie werden daher an dieser Stelle nicht weiter thematisiert.

Erzeugte Wirkung Metaanalyse: Seite Empirische Belegtheit
Interaktionsstruktur
Verstärkte gegenseitige Hilfe und Unterstützung A: 49 Eigenverweis
Erhöhter Informationsaustausch und kognitive Reorganisation A: 49/50 B: 110 Mehrere Studien
Verminderte Sprechangst A: 50 Eine Studie
Erhöhte Herausforderung und Disput A: 51 Kein Beleg
Public Advocacy and Commitment A: 51 Kein Beleg
Erhöhte positive gegenseitige