Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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scheinen. Zugespitzt lassen sich vielleicht folgende drei Positionen ausmachen. (1) Von der gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeit her denkende Ansätze mit einer umfassenden Bildungs- und Demokratieorientierung (z. B. Dewey 2008 [1916]) gehen davon aus, dass die Schule als community jene Werte lebt, durch die Schüler*innen zu partizipationsfähigen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft werden. Dies hat sich auch in der strukturfunktionalistischen Schultheorie fortgeschrieben (Fend 2008, 79) und diese Position ist in der Fremdsprachenforschung als emanzipatives Verständnis von Lernerautonomie (z. B. Benson 2001) präsent. Kooperativität zielt darin nicht nur auf eine Optimierung individueller Lernprozesse, sondern auf Emanzipation der Einzelnen und Festigung demokratischer Strukturen des Kollektivs. (2) Auf das Individuum fokussierte Ansätze stellen das lernende Individuum ins Zentrum und fragen nach den dieses individuelle Lernen optimierenden Faktoren ohne dabei die Wirkungen dieser Lernprozesse für die Gesellschaft zu thematisieren. (3) In einer neoliberalen Ausdeutung schließlich werden die neuen Unterrichtsformen als Mittel dazu gesehen, zukünftigen Arbeitnehmer*innen die in einer postindustriellen Wirtschaft notwendigen Schlüsselqualifikationen mit auf den Weg zu geben (vgl. z. B. die kritische Analyse bei Rabenstein 2007). Dadurch sollen die Chancen des Individuums im Kampf um Arbeitsplätze und die Chancen eines Landes im Kampf um Anteile am globalen Wirtschaftsaufkommen optimiert werden. Emanzipation und Demokratieorientierung sind hier nur insofern legitime Ziele, als sie dem Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen dienen.

      Dies ist der Stand der Diskussion, auf dem die Darstellung des aktuellen Theorie- und Forschungsstands ansetzt (vgl. Kap. 2.4). Die angedeuteten Spannungsverhältnisse werden sich durch die gesamte Untersuchung ziehen. Sie werden im theoretischen Teil (2.3) vertieft und auch wesentlich in den Perspektiven der Lehrer*innen wiederzufinden sein. Um all dies aber differenziert ausarbeiten zu können, ist zunächst Begriffsarbeit notwendig.

      2.2 Der Begriff des Kooperativen Lernens

      Was ist KL eigentlich? Ist es nicht einfach Gruppenarbeit und damit auch schon lange bekannt? Schließlich geht es auch hier darum, dass Kleingruppen von Schüler*innen zusammenarbeiten. Ist daher KL vielleicht nur ein weiteres Plastikwort (Pörksen 1988), ein weiteres Produkt globaler Sloganisierung (Schmenk 2008), das inhaltsleer und mit überdehntem Bedeutungshof seine Bahnen durch die fachdidaktische und schulpädagogische Fachliteratur zieht? Auch wenn die folgende Darstellung zeigen wird, dass es in der Tat zahlreiche und durchaus unterschiedliche Auffassungen von KL gibt, so lässt sich doch ein Begriffskern herauspräparieren, mit dem weiterzuarbeiten sich lohnt.

      2.2.1 Kooperatives Lernen: Think-Pair-Share

      Im ersten Zugriff wird KL häufig über die Sozialform definiert. Dabei wird nur das als KL bezeichnet, was sich von der Urform Think-Pair-Share ableitet. Diese Arbeitsform gliedert sich in drei Phasen: (1.: Think) Die Lernenden erschließen sich einen Inhalt oder bearbeiten eine Aufgabe zunächst in Einzelarbeit. (2.: Pair) Nun gleichen sie ihr Ergebnis mit einem/einer Partner*in ab, korrigieren sich gegenseitig oder bearbeiten eine über den ersten Schritt hinausgehende Aufgabe. (3.: Share) Abschließend werden die zustande gekommenen Ergebnisse der gesamten Klasse oder einer Kleingruppe mitgeteilt und dort ggf. weitergeführt.

      Diese Definition von KL ist insofern problematisch, als sie unterstellt, dass das Vorgehen nach dem Schema Think-Pair-Share, das ja zunächst lediglich eine Sozialform darstellt, auch zu kooperativem Arbeiten führt. Zahlreiche Studien (vgl. z. B. Naujok 2000; Bonnet 2004; Krummheuer 2007) zeigen aber, dass in der gleichen Sozialform auf sehr verschiedene Arten und Weisen miteinander gesprochen und gearbeitet werden kann. Dabei ist das gesamte Spektrum von echter Ko-Konstruktion, über Helfen und Nebeneinanderher-Arbeiten bis zu offenem Konflikt möglich. Auf der Basis seiner umfassenden Studien zu Interaktion im Mathematikunterricht kommt Götz Krummheuer (2007) daher zu dem Ergebnis, dass insbesondere soziale Prozesse wie der Einfluss der Schüler*innen aufeinander die Arbeit in Gruppen ebenso stark bestimmen wie die inhaltlichen und methodischen Aspekte der Aufgabenstellung. Er folgert daher:

      Hoffnungen, über bestimmte Aufgabentypen, wie sie etwa in den Diskussionen zu den Ergebnissen aus TIMSS und PISA häufig zu hören sind, oder über die Vorgaben von Gruppenstrukturen die Ergebnisse zu optimieren, halte ich für illusorisch (Krummheuer 2007, 83).

      Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine rekonstruktive Aufgabenstudie im Französischunterricht (Tesch 2010), die zeigt, dass selbst in einem aufgabenorientierten Unterricht die jeweils realisierten inhaltlichen und sozialen Anforderungen konkreter unterrichtlicher Lernsituationen weniger durch die Aufgaben selbst – also das Material – bestimmt werden. Vielmehr werden die Aufgaben von den Schüler*innen und Lehrer*innen an jene Struktur angepasst, die für ihre unterrichtliche Praxis charakteristisch ist. Pointiert gesagt: Die Aufgaben verändern nicht den Unterricht, sondern der Unterricht verändert die Aufgaben.

      2.2.2 Kooperatives Lernen: Basiselemente

      Um kooperativen Unterricht differenziert beschreiben zu können, muss daher zunächst geklärt werden, was unter Kooperativität verstanden werden soll. Dazu finden sich in der Literatur (z. B. Johnson/Johnson 2015; Gillies 2007) die sogenannten Basiselemente. Kooperativität ist danach charakterisiert durch:

      1 direkte Interaktion

      2 das Verfolgen gemeinsamer Ziele

      3 positive Abhängigkeit

      4 individuelle Verantwortlichkeit

      5 gegenseitige Unterstützung

      6 Erwerb und angemessener Einsatz von Sozialkompetenzen

      7 Reflexion der Gruppenprozesse

      In diesem Verständnis findet KL potenziell also immer dann statt, wenn Lernende miteinander in direkte Interaktion treten. Das allein genügt aber noch nicht. Diese Interaktion ist nur dann kooperativ, wenn darin auch auf gemeinsame Ziele hingearbeitet wird. Außerdem muss das gemeinsame Arbeiten so beschaffen sein, dass jede*r Interaktionspartner*in einen unverzichtbaren Anteil zum Erreichen der Ziele beisteuert und für diesen Anteil auch Verantwortung übernimmt. Das Miteinander der Teilnehmer*innen muss dabei einander unterstützend sein und der Einsatz sozialer Kompetenzen sollte erkennbar werden, mindestens durch Reflexion auf Probleme, die durch fehlende soziale Fähigkeiten entstanden sind. Besonderes Augenmerk wird auf die förderliche Interaktion („promotive interaction“) gelegt, die Johnson/Johnson (1994, 48) mit acht Qualitäten charakterisieren: gegenseitige Unterstützung, Austausch von Gedanken und Materialien, gegenseitige Rückmeldung, konstruktive Kritik der Überlegungen und Schlussfolgerungen des Partners, gegenseitige Ermunterung zu weiteren Anstrengungen, vertrauensvolles Verhalten, beiderseitigen Nutzen verfolgen, angeregtes Miteinander ohne Angst und Stress.

      2.2.3 Begriffskritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik

      Sichtet man die Forschungsliteratur zu KL der letzten Jahre, so findet sich eine deutlich variantenreichere Begriffsverwendung als mit den beiden bisher genannten Definitionen abgedeckt wäre. Abgesehen von Veröffentlichungen, die den Begriff des KL voraussetzen und nicht weiter klären (z. B. Finkbeiner 2000; Law 2011) lassen sich folgende Verwendungen rekonstruieren:

      1 Eher weite Definitionen verwenden ein oder zwei der oben genannten Basiselemente und verstehen KL ansonsten als eine recht freie Form eigenverantwortlicher, selbstregulierter, aktiver und offener Gruppenarbeit (Haitink/Haenen 2002; Huber 2001; Jacobs/Farrell 2001; Rankes 1999), in der sogar Ziele und Wege zwischen den Gruppenmitgliedern ausgehandelt werden und gemeinsame Wissenskonstruktion stattfinden soll (Chinnery 2008; Overmann 2002). Kooperation und Kollaboration werden dabei begrifflich nicht unterschieden (Imai 2010).

      2 In anderen Studien findet sich ein deutlich engerer Begriff, der nahezu alle Basiselemente sowie die methodische Vorstrukturierung der Interaktion als notwendige definitorische Merkmale von KL umfasst (Ghaith 2002; Sharan 2010). In einer Publikation dieser Gruppe wird die stärker auf Arbeitsteilung angelegte Interaktionsform der Kooperation von der stärker auf eine gemeinsame und koordinierte Definition von Problem und Lösungsweg angelegte Interaktionsform der Kollaboration unterschieden (Dillenbourg