Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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ihnen wahrgenommenen Defizite zu beheben. Schon bei der Diskussion der allerersten Idee war ja klar geworden, dass die Lehrer*innen zumindestens auch Individualisierung im Kopf hatten. Außerdem war die Frage vom Subjekt her falsch gestellt. Die Forscher*innen waren gar nicht in der Position, etwas sicherstellen zu können – und wollten das auch nicht. Die zweite Frage war deutlich problematischer: Woher wollten sie dann wissen, was sie da eigentlich beforschten? Und wie könnten sie am Ende sagen, welcher Effekt die Konsequenz aus welchem Charakteristikum des Unterrichts war? Die Antwort dazu blieb stets vorläufig und konnte auch die eigenen Zweifel nie ganz beruhigen. Was den Unterricht anging, so konnte der nicht einfach auf der Basis des bereitgestellten Materials beschrieben werden. Vielmehr mussten die Forscher*innen in einer eigenen Teilstudie (Kap. 3) rekonstruieren, welche Form von Unterricht tatsächlich zustande gekommen war. Außerdem haben die Lehrer*innen in den Interviews viel aus ihrem Unterricht erzählt und über ihn reflektiert. Diese verschiedenen Informationen werden im Diskussionsteil (Kap. 6) zusammengeführt, um ein verdichtetes Bild des Unterrichts der Lerngruppen zu zeichnen. Noch besser wäre es gewesen, die Schüler*innen selbst zu fragen und auch aus ihrer Perspektive zu hören, welche Unterrichtserfahrungen sie mit welchen Wirkungen in Verbindung bringen. Dieses aber hat sich aufgrund zeitlicher und finanzieller Beschränkungen als nicht realisierbar erwiesen.

      Und das vierte Problem? Das Ziel war es, die Einführung von Kooperativem Lernen unter Normalbedingungen zu begleiten. Das wirft die Frage auf, was eigentlich normal ist. Für die Schule und andere Bildungsinstitutionen ist diese harmlose Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Auf Schulen scheinen derzeit zwei völlig unterschiedliche Kräfte einzuwirken. Zum einen bringen zentralisierende Maßnahmen wie Zentralabitur oder Vergleichsarbeiten Vereinheitlichungen und Standardisierungen mit sich. Zum anderen ist spätestens seit in Deutschland der Wettbewerbsföderalismus ausgerufen ist und Schulautonomie den Schulen erlaubt, ihren nicht selbst verschuldeten Mangel selbst zu verwalten, eine Bewegung zum Finden regionaler oder sogar lokaler Lösungen im Gange. Spätestens damit aber gibt es keine allgemein gültige schulische Normalität mehr. Selbst innerhalb einer Schule kann die Art, wie Kolleg*innen miteinander sprechen und arbeiten, von Fachgruppe zu Fachgruppe sehr unterschiedlich sein. Dementsprechend muss das, was an einer gegebenen Schule normal ist, erst einmal rekonstruiert werden. Da dies auf der Basis von Interviews geschieht, wird die Normalität durch die Brille der Lehrer*innen betrachtet. Diese Sicht ist insofern angemessen, da sie für die Arbeit der Lehrer*innen die entscheidende ist. Und es ist eben diese Normalität der alltäglichen Rahmenbedingungen, die die Forscher*innen durch möglichst wenig Intervention möglichst wenig verändern wollten.

      Noch ein Problem? Nein, eher noch eine Herausforderung, die sich stellt, weil die Forscher*innen auch Hochschullehrer*innen sind, weil sie möchten, dass das Projekt nicht nur Forschungsergebnisse liefert, sondern auch Studierende in ihren Professionalisierungsprozessen unterstützt; weil sie darin eine große Chance sehen, forschendes Lernen an der Universität zu verwirklichen. Deshalb hatten sie das Ziel, möglichst viele Studierende am Projekt zu beteiligen. Die Studierenden sollten Einblicke in die schulische Realität als etwas zu Gestaltendes erhalten und an der Gestaltung mitwirken. Sowohl die Materialerstellung als auch die Konstruktion und Auswertung von Tests fanden daher im Rahmen von Seminaren oder in einer Forschergruppe statt, zu deren Mitgliedern auch viele Studierende gehörten. Die Rückmeldung von den Studierenden und die Eindrücke der Forscher*innen hinsichtlich der Lern- und Bildungseffekte aller Beteiligten waren sehr positiv. Eine große – teilweise bis zum Schluss ungelöste – Herausforderung bestand aber darin, dass die Forschergruppe aus verschiedenen Gründen über den Projektzeitraum ständigen Wechseln unterlag, was es schwierig machte, das erarbeitete Know-how reibungslos an nachfolgende Mitwirkende weiterzugeben.

      1.2 Die Fragen des Projekts

      Welche Fragen ergeben sich nun aus dieser Beschreibung der Situation vor Beginn des Projekts? Da sind erstens die Lehrer*innen. Das Projekt wurde von ihnen angestoßen und bearbeitete ein von ihnen selbst wahrgenommenes Problem, das sie mit von ihnen selbst formulierten Mitteln lösen wollten. In dieser Studie interessiert, welche Entwicklungen die Lehrer*innen dabei durchlaufen haben. Wie entwickeln sich ihre Unterrichtsbilder? Wie gestalten sie ihre Beziehung zu den Schüler*innen? Wie verändert sich ihre Wahrnehmung dessen, was in ihrer Schule normal ist? Wie gehen sie mit den Bedenken um, die sie in Bezug auf mögliche Reaktionen ihrer Kolleg*innen haben? Absolut beeindruckend ist dabei, welche Anstrengungen (z. B. doppelte Unterrichtsplanung) Kolleg*innen wie Yvonne Kuse auf sich nehmen, um sich von der herrschenden Normalität zu lösen. Beinahe beängstigend wirkt andererseits, wie stark der Einfluss dieser Normalität ist. In dieser Perspektive werden die Lehrer*innen als handelnde Individuen betrachtet mit ihren Überzeugungen, ihren Wissensbeständen, ihrer jeweiligen (Berufs-)Biographie. Mit mindestens gleicher Dringlichkeit stellt diese Studie die Frage nach den Strukturen, in denen die Lehrer*innen handeln, an deren Grenzen sie stoßen und auf die sie wiederum mit ihrer agency einwirken.

       Abb. 1:

      Die unterschiedlichen Bereiche, in denen diese Untersuchung Fragen stellt.

      Zweitens sind da die Ergebnisse des Unterrichts. Alle Beteiligten sind sehr interessiert daran zu erfahren, welche Wirkungen der Unterricht erzielte. Zum einen in Bezug auf den fremdsprachlichen Ertrag, zum anderen in Bezug auf die Entwicklungen die Schüler*innen im Bereich sozialer Kompetenzen. Die Teilstudie zur Sprachkompetenz ist allerdings nicht als Prozess-Produkt-Studie auf der Suche nach eindeutigen Zusammenhängen zwischen strukturellen bzw. inhaltlichen Elementen des Unterrichts und daraus resultierenden Effekten gedacht. Noch weniger wird im Bereich der sozialen Kompetenzen versucht, allgemeingültige Aussagen zu formulieren. Vielmehr geht es in beiden Bereichen darum, die Auswirkungen des Unterrichts entdeckend in den Blick zu nehmen, um auf sich zeigende Phänomene aufmerksam zu werden. Zunächst einmal kann man auf der Basis des Forschungsstands (vgl. Kap. 2.4) davon ausgehen, dass kooperativer Englischunterricht Effekte im sprachlichen und sozialen Bereich haben wird. Die Sprachtests und die Analyse der Unterrichtsaufzeichnungen, insbesondere der Kleingruppeninteraktionen, dienen dazu, diese Erwartung mit der sich entfaltenden Praxis abzugleichen.

      Drittens interessiert natürlich der (Englisch-)Unterricht selbst. Aufgrund der Zurückhaltung der Forscher*innen hinsichtlich möglicher Vorgaben für die Lehrer*innen, war es besonders wichtig, den Unterricht selbst in den Blick zu nehmen. Es war anzunehmen, dass dieser Unterricht sich vor allem auf drei Ebenen entfalten würde. Erstens brachten die Lehrer*innen eine von ihnen als bisherige Normalität beschriebene Orientierung auf Lehrerzentrierung und Instruktion zum Ausdruck: Lehrer*innen sollen den Unterricht lenken, und sie sollen die Inhalte erklären. Davon, und das ist die zweite Ebene, wollten die Lehrer*innen sich lösen und stärker individualisierende Elemente einbringen. Das würde dazu führen, dass die Schüler*innen verstärkt allein, zumindest aber stärker eigenverantwortlich arbeiten würden. Darüber hinaus gab es auf der dritten Ebene bei den Lehrer*innen aber auch ein starkes Element von Kooperativem Lernen. Das wiederum würde mehr Arbeit in Gruppen und ebenfalls mehr Verantwortung für sich selbst und die Mitschüler*innen bedeuten. Es geht hier aber nicht nur um Schule, sondern auch um Fachunterricht in einer modernen Fremdsprache. Daher ist es im primären Interesse der Studie, die fachliche Seite des Unterrichts zu rekonstruieren. Daher wird darauf geschaut, was im Unterricht thematisiert wird, also welche Inhalte den Unterricht prägen. Es wird aber auch darauf geschaut, gemäß welcher Prinzipien diese Inhalte inszeniert werden. Dabei werden im Zuge der Rekonstruktion bei entsprechender Passung auch fachdidaktische Begriffe wie der Gegensatz zwischen Form- und Mitteilungsorientierung oder das Konzept der (Schein-)Authentizität zum Einsatz kommen.

      Die Vielschichtigkeit des Kooperativen Lernens ist in dieser Einleitung schon mehrfach zur Sprache gekommen. Daraus resultiert die Notwendigkeit, sich intensiv mit Kooperativität als Konzept und als Begriff auseinanderzusetzen. Zunächst vermuteten die Forscher*innen (im Rückblick wirkt diese Vorstellung reichlich egozentrisch und naiv), dass diese Vielschichtigkeit daraus resultierte, dass die Lehrer*innen anfangs eben (noch) keine klare Vorstellung von Kooperativem Lernen hatten. Von dieser Fehlvorstellung wurden die Forscher*innen alsbald kuriert. Erstens zeigte sich in der theoretischen