Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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ebenfalls fassbar. Das methodische Kontingenzproblem wird dadurch erfasst, dass Unterricht von Erickson (1982) und im Anschluss daran (mit Blick auf die Schüler*innen) von Kurtz (2001) und (mit Blick auf die Lehrpersonen) von Sawyer (2004, 2011) als kollektive „Improvisation“ über ein Thema verstanden wird. Damit stellt der hier verwendete Theorierahmen eine Verbindung zum Begriff der Performativität her und betont die Prozesshaftigkeit von Unterricht. Dadurch ist zugleich auch die Nicht-Planbarkeit von Unterricht fester Bestandteil der Theorie. Das didaktische Kontingenzproblem wiederum lässt sich mit der oben beschriebenen praktischen Solidarität fassen, wonach die Schüler*innen als partizipationsfähige Laien anerkannt werden, auch wenn sich die Rationalität ihrer eigensinnig hervorgebrachten Anschlüsse an die Vermittlungsangebote der Lehrer*innen aufgrund des Generationsunterschieds vielleicht nicht sofort erschließt. Praktische Solidarität ist Voraussetzung dafür, dass die im Voraus des Unterrichts nicht mehr eindeutige Bestimmbarkeit der Inhalte durch deren Aushandlung in intergenerationeller Kommunikation ersetzt werden kann.

      3.1.3 Methodologie und Methode der Unterrichtsstudie

      Damit ist der Punkt erreicht, an dem die Gegenstandstheorie empirisch gewendet werden kann. Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst muss der theoretische Rahmen in den Begriffen der empirischen Methode rekonzeptualisiert werden. Anschließend können die Analyseschritte dargelegt werden.

       Reformulierung der Rahmentheorie in den Begriffen der Wissenssoziologie

      Als grundlagentheoretischer und methodologischer Rahmen für die Unterrichtsstudie dient die Wissenssoziologie (z. B. Mannheim 1995 [1929]) mit der daraus abgeleiteten Dokumentarischen Methode (z. B. Bohnsack 2014). Sie geht den im Vorangegangenen dargelegten Theorien historisch voraus und teilt deren Grundannahmen. Sie fragt nach den „außertheoretischen Bedingungen des Wissens“ (Mannheim 1995 [1929], 227) und versucht, die „Standortgebundenheit“ (ebd.) von Wissen und Denken methodisch kontrolliert empirisch zu rekonstruieren. Mannheim hat damit zum einen jene Denkfigur entwickelt, die Wissen und Handlungsdispositionen als milieuabhängig und aus sozialen Erfahrungen resultierend auffasst, so wie dies später mit Goffmans Begriff des „Rahmens“ oder Bourdieus Begriff des „Habitus“ weiter ausgearbeitet wurde. Zum anderen formulierte Mannheim den Gedanken, dass Wissen und seine Weitergabe zur Aufrechterhaltung von Kulturen weniger durch die Gesetze der Logik, als vielmehr durch politische oder wirtschaftliche Interessen strukturiert werden und damit untrennbar mit Macht verbunden sind, so wie dies später z. B. im Konzept der „Gouvernementalität“ (vgl. Kap. 3.1.1) ausgearbeitet wurde.

      Die Grundannahme der Wissenssoziologie ist, dass menschliches Handeln auf der Basis von durch Erfahrung erworbenen Dispositionen zur Konstruktion von Bedeutung bzw. Sinn geschieht. Mannheim selbst nennt diese Dispositionen „Wollungen“ (ebd.). Entgegen der damit transportierten Konnotation von Intentionalität und Bewusstheit sind sie dies allenfalls teilweise. Vielmehr sind sie kognitiv, emotional und körperlich in zwei Wissensformen repräsentiert: Theoretischem und damit bewusstem bzw. explizitem Wissen steht atheoretisches und damit unbewusstes bzw. implizites Wissen gegenüber. In diesem Zusammenhang wird in der Dokumentarischen Methode auch von Orientierungsmustern gesprochen, die sich aus Orientierungsrahmen (atheoretischem Wissen) und Orientierungsschemata (theoretischem Wissen) zusammensetzen. Da wir in den Analysen die performative Performanz (Bohnsack 2017, 92–101) und nicht eigentheoretische Aussagen der Akteure fokussieren, verwenden wir im Folgenden durchgängig den Begriff des Orientierungsrahmens. Nur wenn sich ein Bezug auf explizite Selbst- oder Fremdzuschreibungen rekonstruieren lässt, verwenden wir den Begriff des Orientierungsschemas. Orientierungsrahmen werden durch Erfahrungen, also durch bewusste oder unbewusste Verarbeitung von Erlebnissen aufgebaut. Dass diese Wissensbestände zunächst immer milieugebunden sind und dadurch ein gewisses Maß an kollektiver Übereinstimmung mit denen der anderen Mitglieder der eigenen Gruppe aufweisen, wird durch den Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraums“ (z. B. existent in Form eines sozialen Milieus oder einer virtuellen Gemeinschaft) zum Ausdruck gebracht. Der Begriff der Konjunktivität bezeichnet die empirisch immer wieder aufgefundene Tatsache, dass sich Angehörige eines gemeinsamen Erfahrungsraums unmittelbar verstehen, ohne dass sie ihre Vorstellungen eigens explizieren müssen. Dies führt die Wissenssoziologie auf geteilte Erfahrungen und daraus erwachsene vergleichbare Wissensbestände zurück.

      In Interaktionen manifestiert sich dieser Zusammenhang auf unterschiedlichen Ebenen. Mannheim unterscheidet drei Sinnebenen: den dokumentarischen, den objektiven bzw. immanenten sowie den intentionalen Sinn. Der objektive Sinn verweist auf kulturell standardisierte Bedeutungen von Gesten (z. B. ein Geschenk als Ausdruck von Anerkennung), der intentionale Sinn erfasst die subjektive Absicht einer Geste. Beide sind somit einer konkreten Interaktion vorgängig. Der Dokumentsinn hingegen ist nicht unmittelbar gegeben, sondern entsteht erst in der konkreten Interaktion; er bezeichnet eine Bedeutung, auf die die Gesten der Interaktionsteilnehmer*innen verweisen. Am Beispiel des Knüpfens eines Knotens macht Mannheim (1980, 73) deutlich, dass der Dokumentsinn nicht die denotative Ebene (der Knoten selbst) der Inhalte der Interaktion, sondern vielmehr die ihr unterliegende Ebene des modus operandi der Herstellung dieser Inhalte (die Handlungsfolge des Knüpfens des Knotens) bezeichnet. Dieser Sinn ist nicht mehr durch eine Paraphrase der inhaltlichen Oberfläche eines Textes, sondern nur durch die Interpretation der syntaktischen, lexikalischen, semantischen und nicht-sprachlichen Ebene empirischer Dokumente zugänglich. Den Sinn oder die Bedeutung einer Interaktionsfolge kann man demnach erst dann rekonstruieren, wenn man sowohl die Ebene der Inhalte als auch die Ebene der Form berücksichtigt.

      Die beiden unterschiedlichen Sozialbeziehungen (also: Kommunikativität und Konjunktivität) zwischen Interaktionsteilnehmer*innen korrespondieren mit zwei hauptsächlichen Interaktionsmodi. Liegen aufgrund vergleichbarer Erfahrungen geteilte Orientierungsrahmen vor, so findet unmittelbares Verstehen statt. Der als „Verstehen“ bezeichnete Interaktionsmodus (Asbrand/Nohl 2013, 164) bezieht sich auf eine Interaktion, die allein schon dadurch gelingt, dass Gesten eine indexikalische Funktion haben, indem sie direkt auf geteilte Erfahrungen und daraus abgeleitetes Wissen verweisen und damit ein konjunktives Verständnis herbeiführen. Liegen unterschiedliche Orientierungsrahmen vor, kann lediglich ein mittelbares Verständnis der gegenseitigen Äußerungen stattfinden. Da die Gesten hier aufgrund fehlender vergleichbarer Erfahrungen keine indexikalische Funktion haben, bedarf gegenseitiges Verständnis der explizierenden Kommunikation und Interpretation. Dieser Interaktionsmodus wird als „Interpretieren“ bezeichnet (ebd.).

      Indem sie also die soziale Gebundenheit von Wissen theoretisch fasst, ist die wissenssoziologische Analyse unterschiedlicher Sinnebenen in hohem Maße geeignet, die Wechselbeziehungen von Sozialität und Pädagogizität von Interaktion und damit auch von Unterricht zu erfassen. Die Wissenssoziologie kann aber nicht nur Aussagen über bestehende Wissensbestände machen, sondern erlaubt auch Aussagen über deren Zustandekommen. Die Grundidee des Aufbaus von Wissen über einen „zirkulären Prozess von Interpretieren, Explizieren, Reflektieren und Verstehen“ (ebd.) von Gesten ist mit der konstruktivistischen Grundidee von Lernen als Weiterentwicklung kognitiver Schemata auf der Basis der Deutung von Erfahrungen kompatibel. Diese Grundidee erlaubt es sogar, die grundlegende bildungstheoretische Unterscheidung der Aneignungsmodi Lernen und Bildung abzubilden. Ein Lernen im Sinne der Akkumulation von Informationen innerhalb bestehender Rahmungen kann als „Dazu-Lernen“ (ebd.) im Modus des Verstehens gesehen werden. Eine Explikation der Rahmungen ist dazu nicht notwendig, da sie als geteilt vorausgesetzt werden. Bildung hingegen kann als „negatives Lernen“ (ebd.) oder auch transformatorisches Lernen (Mezirow 1991) aufgefasst werden, da es die vorhandenen Orientierungsrahmen infrage stellt. Dadurch wird es erforderlich, diese Orientierungsmuster selbst durch Explikation und Reflektion im Modus der Interpretation transparent und bearbeitbar zu machen. In der Begrifflichkeit der transformatorischen Bildungstheorie ermöglicht es die Wissenssoziologie somit, sowohl das Produkt der Erfahrungsaufschichtung (Orientierungsrahmen) als auch deren Prozess (Verstehen und Interpretieren in Interaktion) zu erfassen.

      Wie kann nun Unterricht mit den Begriffen der Wissenssoziologie beschrieben werden? Zunächst einmal ist Unterricht ein Anwesenheitsraum, in den Schüler*innen und Lehrer*innen ihre z. B. herkunftsmilieuspezifischen Orientierungsrahmen mitbringen. Werden diese Orientierungsrahmen zur Deutung von Erlebnissen