Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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Zugfolgemustern. Die äußere Form dieser Muster verweist noch auf die Pädagogizität des Unterrichts, in der Erstarrung der Form ist deren Funktion aber bereits verloren gegangen.

      Warum wird diese Praxis aber aufrecht erhalten, wenn Bildung gar nicht mehr stattfindet und ihre Abwesenheit von allen Beteiligten stillschweigend akzeptiert zu werden scheint? Im strukturtheoretischen Modell taucht diese Funktion von Unterricht auf, wird aber mit dem Begriff der Erziehung in den Dienst der Vermittlungsabsicht (Didaktik und Bildung) gestellt. Betont man hingegen stärker die institutionelle und organisationale Verortung von Unterricht, dann wird deutlich, dass die Sozialität von Unterricht nur hinreichend erfasst werden kann, wenn auch die Frage der Macht thematisiert wird.

      Man muss wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert (Foucault 1994 [1976], 39).

      Die Analyse dieser Machtbeziehungen aus historischer Perspektive vermag das scheinbare Paradoxon eines Unterrichts, der ohne Sachbezug und Bildungswirkung auskommt, zu erklären. In dieser Perspektive zeigt sich Unterricht als institutionell-organisational gerahmter Ausübungsort staatlicher Herrschaft, dessen Verwahrcharakter – z. B. zur Vermeidung von Delinquenz oder umstürzlerischen Umtrieben – nicht Unfall, sondern genuiner Zweck dieser „lernbezogenen Menschenhaltung“ (Caruso 2011) ist: „Im Unterricht werden heranwachsende Menschen auch gehalten, damit sie nicht nur in den Genuss kognitiv wertvoller Interaktionen kommen, sondern auch, damit sie bestimmte andere mögliche Interaktionen vermeiden“ (ebd., 25). Hier wird nicht nur Bildung, sondern sogar Lernen als für Unterricht konstitutiv in Frage gestellt.

      Folgt man der Analyse Foucaults, der den Prozess der politischen Modernisierung als Entwicklung einer neuen Kontrolltechnik – als Übergang von äußerer Strafe zu innerer Disziplinierung – konzeptualisiert, dann ist Unterricht nicht nur Verwahrung, sondern sogar die pädagogische Einflussnahme selbst steht im Zeichen der Machtausübung. Mit dem Konzept der Gouvernementalität wird sowohl theoretisch beschreibbar als auch empirisch rekonstruierbar, wie Erziehung und Lernen als Ausübung von Herrschaft im Sinne der Weitergabe von Handlungsimperativen, deren Verinnerlichung bei den Lernsubjekten zur „Selbst-Beherrschung“ führt, interpretiert werden kann.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Foucault (2004) mit der Einführung seines Konzepts der Gouvernementalität darauf abzielt, Machtbeziehungen unter dem Blick von Führung untersuchen zu können, um damit die Frage, wie andere zu regieren sind, also nach den Techniken der Fremdführung, mit der Frage wie man sich selbst regiert, also nach den Formen der Selbstführung, zu verknüpfen (Rabenstein 2007, 42).

      Mikroskopisch gewendet kommt dann mit Hilfe der Diskursanalyse in den Blick, welche Machtstrukturen in einem gegebenen Unterricht aktualisiert werden und wie in der unterrichtlichen Interaktion Handlungsimperative erworben oder auch Herrschaftsansprüche zurückgewiesen werden. Diese historische Entwicklung ist auch beim Übergang von frontalen zu individualisierten bzw. kooperativen Unterrichtsformen zu beobachten. So verweisen die Analysen von Rabenstein (ebd.) darauf, dass gerade diese neuen Unterrichtsformen mit ihren hohen Ansprüchen an Autonomie und Reflexivität die Schüler*innen zu sehr komplexen Selbst-Inszenierungen nötigen, für die jeweils geklärt werden muss, ob die Übernahme dieser Rituale durch die Schüler*innen Akte der Selbst-Unterwerfung oder der ironisierenden Distanznahme darstellen.

      Diese machttheoretische Betrachtung könnte den Eindruck erwecken, dass sich der Unterrichtsbegriff mit der Thematisierung der Sozialität maximal von der Pädagogizität entfernt hat. Bei näherer Betrachtung erscheint es allerdings eher so, als schließe sich damit der Kreis. Schon im strukturtheoretischen Modell wird Erziehung als hierarchischem Steuerungsprozess die Funktion zugeschrieben, die interaktionalen Voraussetzungen für die Umsetzung didaktischer Absichten zu schaffen. Bezieht man aktuelle Subjekttheorien ein, löst sich der konstruierte Gegensatz von Pädagogizität und Sozialität auch hinsichtlich der innovativen Seite, d.h. in Bezug auf emergente Bildungsprozesse auf. Das Konzept der subjection (Butler 2001, 2006) beschreibt, dass Individuen eine Handlungsmacht generierende Ich-Position nur einnehmen können, indem sie sich herrschenden Strukturen unterwerfen – diese dann aber durch Prozesse der Resignifikation, also der sprachlichen Umdeutung, in der Interaktion verändern. Im Lichte dieses Ansatzes erhielten auch die von Rabenstein (2009) geschilderten Inszenierungen von Reflexivität und persönlicher Sinnkonstruktion der Schüler*innen in individualisierten bzw. kooperativen Settings noch eine etwas andere Deutung. Sie erscheinen dann nicht mehr (nur) als subversive Akte, in denen Individuen trotz der an sie herangetragenen Herrschaftsansprüche agency entfalten, sondern (auch) als interaktionale Akte, in denen Individuen eine Subjektposition nur deshalb einnehmen können, weil sie sich zuvor einer herrschenden Form unterworfen haben. Es wäre, so gesehen, gerade der Interaktionsrahmen der neuen Unterrichtsformen, der es den Schüler*innen ermöglicht, in der Inszenierung von Reflexivität und Sinnkonstruktion aus diesem Rahmen herauszutreten, sich in Opposition zu ihm zu positionieren und dessen in leerer Form erstarrte Inhaltslosigkeit bloßzustellen. Dabei entstünde ein neues Paradoxon mit einem gehörigen Schuss Ironie: Die neuen Unterrichtsformen ermöglichen den von ihnen programmatisch vertretenen Autonomiegewinn nicht dadurch, dass man ihren Prozeduren folgt, sondern vielmehr in dem Maße, in dem man sich zu ihnen in Opposition setzt. Letzeres wiederum scheint durch ihre Offenheit erleichtert zu werden.

      Als zweite Eigenschaft einer für Unterricht charakteristischen Sozialität kann man damit die interaktive Herstellung von Machtverhältnissen in Lerngruppen betrachten, in denen sich Lehrer*innen und Schüler*innen zueinander positionieren. Diese Machtverhältnisse stehen in einer gegenseitigen Beziehung der Dualität von Struktur zu den sie umgebenden organisationalen (Schule) und institutionalen (Bildungssystem) Machtverhältnissen. Einerseits werden die Machtverhältnisse in der Einzelklasse durch den sie umgebenden organisational-institutionalen Kontext maßgeblich bestimmt, andererseits können Verschiebungen der Hierarchien einer Einzelklasse im Sinne der Butlerschen Resignifikation potenziell Veränderungen auf der organisational-institutionalen Ebene bewirken.

      3.1.2 Theorierahmen der Unterrichtsstudie

      In der Diskussion ausgewählter Ansätze der rekonstruktiven Unterrichtsforschung und deren Verknüpfung mit schul- und bildungstheoretischen Überlegungen hat sich Unterricht als komplexes Phänomen und seine theoretische Erfassung als schwieriges Unterfangen erwiesen.

      Die zentrale Herausforderung für die Unterrichtstheorie besteht darin, das Pädagogische in einer Weise zu integrieren, dass weder pädagogische Intentionalitäten mit ihrer Realisierung gleichgesetzt noch vorschnell alle Fragen der erzieherischen Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern aus der Theoriebildung über Unterricht ausgeklammert werden (Proske 2011, 15).

      Dies verweist darauf, dass eine gegebene Unterrichtsstunde nur dann ausreichend charakterisiert ist, wenn sowohl ihre Pädagogizität als auch ihre Sozialität sowie deren gegenseitige Bezugnahmen betrachtet werden.

      Vor der Erörterung dieser Aspekte ist zunächst festzuhalten, dass ein insgesamt rekonstruktiver Ansatz für diese Studie notwendig ist, der die Betrachtung des Unterrichts nicht von vornherein auf Aspekte des KL engführt. Aufgrund der fehlenden empirischen Studien in diesem Bereich ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausgemacht, welche Aspekte der Pädagogizität und Sozialität des Unterrichts sich als wichtig erweisen könnten. Dementsprechend wird insgesamt ein rekonstruktiv-qualitatives Verfahren gewählt.

      Wie im vorangegangenen Abschnitt (vgl. Kap. 3.1.1) dargelegt wurde, ist die Frage der Pädagogizität von Unterricht im Kern die Frage nach dessen Gegenständen und Zielen. Gemäß der beiden herausgearbeiteten gesellschaftlichen Funktionen von Unterricht (innovativ vs. konservativ), stehen sich mit der Weitergabe von Kulturbeständen einerseits und der Findung von Lösungen für neue Problemlagen andererseits zwei Zielsetzungen gegenüber.