Andreas Bonnet

Kooperatives Lernen im Englischunterricht


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kommt in der Professionsstudie ausschließlich und in der Unterrichtsstudie überwiegend zum Einsatz. Die Produktstudie hingegen folgt überwiegend einer subsumtionslogischen Haltung, wenngleich mit der kriterialen Messwertinterpretation auch ein rekonstruktives Element enthalten ist (vgl. Kap. 4). Grundsätzlich wird Unterricht als soziale Praxis zur Herbeiführung pädagogischer Wirkungen im Spannungsfeld von Sozialität und Pädagogizität aufgefasst. Aus der Sozialität des Unterrichts ergibt sich im Sinne symbolisch interaktionistischer Prämissen, dass ein Verstehen des sozialen Geschehens nur möglich ist, wenn man davon ausgeht, „that human beings act towards things on the basis of the meaning the things have for them“ (Blumer 1969, 2). Dieser Sinn von Dingen, und man darf ergänzen: Handlungen und anderen Lebewesen, wohnt den Dingen nicht inne und ist auch nicht mit den Intentionen der Akteure identisch. Vielmehr entsteht er interaktiv durch triadische Relation einer ersten Äußerung eines Akteurs, einer Antwort darauf eines zweiten Akteurs und der daraus resultierenden interaktiven Struktur:

      Sinn konstituiert sich […] hinter dem Rücken der Initiatoren des Sinns; er liegt zeitlich und logisch in einer objektiven Sinnstruktur vor, bevor er auf der Folie signifikanter Symbole identifiziert und subjektiv intentional repräsentiert werden kann (Wagner 1999, 15).

      Vollzieht sich somit soziales Handeln immer schon als interpretatives Geschehen, als Beobachtung, in dem Akteure Sinnkonstruktionen anfertigen, so erfordert die Beforschung dieses Handelns Konstruktionen zweiter Ordnung. „Diese sind (wissenschaftstheoretisch auch formal modellhaft darstellbare) kontrollierte, methodisch überprüfte und überprüfbare, verstehende Rekonstruktionen der Konstruktionen ‚erster Ordnung‘“ (Soeffner/Hitzler 1994, 33), oder systemtheoretisch gesprochen: „ein Beobachten der Beobachtung“ (Bohnsack 2000, 208).

      Daraus folgt auf der Ebene der Forschungsstrategie eine rekonstruktive Grundhaltung, in der es um die „Dechiffrierung von objektiven latenten Sinnstrukturen sozialer Akte bzw. Interaktionen“ (Wagner 1999, 27) geht. Dazu werden qualitative Daten (hier: Transkripte von Unterrichtsvideographien und Interviews) benötigt. Die Transkripte der Unterrichtsvideographien dokumentieren die Interaktion in situ und ermöglichen damit einen unmittelbaren Zugriff auf die emergierenden Sinnstrukturen. Die episodischen Interviews verschaffen Zugang zu den Sinnkonstruktionen der Akteure. Auf der Ebene der Schlusslogik geht dies mit einer abduktiven Haltung einher, in der sozialer Sinn weder deduktiv aus großen Theorien abgeleitet und geprüft wird, noch durch deskriptive Verdichtung des sozialen Geschehens induktiv gewonnen werden könnte. Vielmehr kommt es im Prozess der Rekonstruktion zu einem Schluss vom Vorliegen eines Phänomens auf „Antezedensbedingungen“ unter der Annahme einer bestimmten „Gesetzmäßigkeit“ (Kelle 2008, 88).

      Die Sozialität von Unterricht wirft zweitens das Problem der Vermittlung von Strukturiertheit und agency auf. Soziales Handeln vollzieht sich immer innerhalb bestehender Strukturen, die das Handeln der Akteure stark beeinflussen.

      Akteure besitzen allerdings die prinzipielle Fähigkeit zu agency, die ihnen erlaubt, externen Beschränkungen zuwider zu handeln und auf diese Weise Strukturen und Systeme zu transformieren, in denen diese Beschränkungen herrschen, auch wenn sie von dieser Möglichkeit im Strom routinisierten Alltagshandelns nur selten Gebrauch machen (Kelle 2008, 73).

      Im schulischen Raum kommt hinzu, dass erstens sich durch eine immer höhere Frequenz von Reformvorhaben die Strukturen mindestens der Makro- und Mesoebene (vgl. z. B. Fend 2006) nur noch über begrenzte Zeiträume als stabil angenommen werden können. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass sich durch wachsende Schulautonomie und Wettbewerbsföderalismus potenziell regional oder sogar lokal zunehmend unterschiedliche Strukturen ausbilden. Kelle (2008, 57–79) spricht in diesem Zusammenhang von „Strukturen begrenzter Reichweite“, die in Hinblick auf eine generelle Verallgemeinerung der Befunde wenig aussichtsreich erscheinen, für die aber auch nicht aus dem Blick verloren werden darf, dass sie exemplarischen Gehalt haben können. Kelle folgert aus dieser Dualität, dass Strukturen begrenzter Reichweite durch die Triangulation unterschiedlicher Vorgehensweisen, wie z. B. durch die Integration quantitativer und qualitativer Verfahren beforscht werden sollten.

      Versteht man Unterricht nicht nur als soziales, sondern auch als pädagogisches Geschehen, dann stellt sich im Anschluss an die Rekonstruktion seiner Sinnstruktur zwangsläufig die Frage nach der Notwendigkeit einer normativen Positionierung. Sowohl der emergierende Sinn als auch die rekonstruierten Auswirkungen struktureller und individueller Einflüsse müssen im Verlauf der Untersuchung auf pädagogische Normen bezogen werden. Methodologisch geschieht dies auf zwei Arten. Zum einen muss innerhalb des rekonstruktiven Modus geklärt werden, welche den Akteuren externalen und internalen Normen in der Interaktion enaktiert werden. Zum anderen muss im Modus der Subsumtion und durch Rückbezug der empirischen Rekonstruktionen auf den Theorierahmen geklärt werden, welches pädagogische Potenzial und damit welcher fachliche und allgemeinbildende Wert der rekonstruierten Praxis zugeschrieben werden kann. Auf der Ebene der Gesamtuntersuchung wird diese Funktion von der Produktstudie übernommen, die sich mit der Erfassung der unterrichtlichen Wirkungen beschäftigt.

      Auf methodischer Ebene schließlich werden unterschiedliche Datensorten und Auswertungsmethoden miteinander kombiniert. Die rekonstruktive Perspektive wird durch die Dokumentarische Methode realisiert, die als Klammer um die Prozess- und Akteursstudie dient und die in der Unterrichtsstudie auf Transkripte von Videographien, in der Profsessionsstudie auf Transkripte von Interviews angewendet wird. Nähere Informationen dazu finden sich in den beiden Teilstudien (Kap. 3 und Kap. 5). Diese Vorgehensweise ist notwendig, da die Theoriediskussion gezeigt hat, dass die Kooperativität des Unterrichts nicht nur durch die Analyse der Sichtstruktur zu bestimmen, sondern die tatsächliche Aufgaben- und Interaktionsstruktur des Unterrichts zu rekonstruieren ist. Daher wird in der Analyse der Versuch unternommen, mittels Dokumentarischer Methode auf die unterrichtliche Tiefenstruktur vorzudringen.

      Die subsumtionslogische Perspektive wird hauptsächlich durch den C-Test realisiert, der über den gesamten Untersuchungszeitraum bei allen jeweils verfügbaren Lernenden der Lerngruppen eingesetzt wurde. Dessen Konstruktion und Auswertung wird in der Darstellung der Produktstudie (Kap. 4) umfassend erläutert. Dort werden vorrangig statistisch signifikante Effekte betrachtet. Nicht statistisch signifikante aber beschreibbare Befunde, wie z. B. Unterschiede zwischen den Lerngruppen, werden ebenfalls berichtet aber nicht weiterführend verfolgt.

      Um die Teilstudien aufeinander beziehen zu können, werden die Befunde der Unterrichtsrekonstruktionen kategorial abstrahiert und Veränderungen über die zwei Jahre der Studie beschrieben. Wenn sich die rekonstruierten Eigenschaften des Unterrichts als durch fachdidaktisch etablierte Kategorien beschreibbar erweisen, werden sie entsprechend bezeichnet. Im Bereich der Aufgabenstruktur ist z. B. die Gegenüberstellung von Form- und Mitteilungsorientierung des Unterrichts aussagekräftig. Zur Erfassung der Kooperativität des Unterrichts wird zur Kategorisierung auf die im Theorieteil ausgeführten Basiselemente des KL zurückgegriffen (vgl. Kap. 2.2). Für jede mittels Dokumentarischer Methode analysierte Unterrichtsstunde wird nach Ende der rekonstruktiven Interpretation ein subsumtionslogischer Analyseschritt angeschlossen, durch den die Ergebnisse der Rekonstruktion auf die Basiselemente des KL zurückbezogen wurden. Damit wird das Ziel verfolgt, die Kooperativität des Unterrichts einzuschätzen und einen Vergleich zwischen den Lerngruppen und den Lernjahren zu ermöglichen. Innerhalb dieser subsumtionslogischen Einschätzung wurde auch die Kategorie „Nutzung und Erwerb sozialer Kompetenzen“ betrachtet und darin der jeweils sichtbare Stand der in den Kleingruppen gezeigten sozialen Kompetenzen abgebildet. Sie dient als Grundlage der globalen Einschätzung der Entwicklung der Sozialkompetenzen in den Gruppen. Dieser subsumtionslogische Schritt wurde durch die Diskussion der Einschätzungen (innerhalb des Forschungsteams) intersubjektiv abgesichert. Weitere Elemente der Sozialstruktur des Unterrichts lassen sich nicht ohne weiteres mit Begriffen aus speziellen Theoriezusammenhängen beschreiben. Hier werden jeweils Begriffe aus den Daten heraus entwickelt.

      Von besonderer Bedeutung ist die Longitudinalität der Untersuchung. Sie ist daher als Fallstudie angelegt, in der vier Klassen über drei Jahre hinweg begleitet werden. Da bislang keine Untersuchungen vorliegen, die KL über einen derart langen Zeitraum, unter schulischen Realbedingungen und derartig multiperspektivisch untersucht haben, ist die Untersuchung explorativ angelegt. Sie wurde über drei Jahre in echtem Längsschnitt durchgeführt