»Danke, Frau Gräfin! Und gute Nacht!«
Auguste hörte, wie sie draußen in der Diele laut gähnte. Sie schmunzelte. Brave Emma! Und sie hatte recht: dieser Dr. Wenden war ein wirklich sehr netter…
Auguste Sturmeck schlief friedlich bis tief in den Morgen.
*
»Na, Opa, wo hast du dich
heute nacht rumgetrieben?« begrüßte der fünfzehnjährige Jakob Dr. Andreas Wenden, als dieser noch unausgeschlafen zum gemeinsamen Frühstück erschien. Die zwölfjährige Ursula kicherte albern.
»Ich wurde nach Schloß Sturmeck gerufen!« erklärte der alte Arzt.
»Und? Was fehlte den armen Grafens?« Jakob gab sich betont lässig.
»Arztgeheimnis«, gab sein Großvater zur Antwort. »Kennst du die Familie?«
»Was heißt kennen«, brummte Jakob. »Der Aribo – so ein blöder Name! – geht zwei Klassen über mir. Die reden doch nicht mit so einem ›Baby‹!« Er zuckte die Schultern.
»Er ist sehr nett und sieht soooo süß aus!« schwärmte Ursula. »Wie ein echter Märchenprinz!«
Andreas Wenden schmunzelte und Jakob sagte verächtlich:
»Weiber! Alle gleich blöd!«
»Du bist selber blöd!« konterte Ursula. »Ich bin die Klassenbeste! Und was bist du?«
»Auch Einstein ist einmal sitzengeblieben. Und Bismarck ebenso«, war die ungerührte Antwort, und Wenden lachte über die Schlagfertigkeit.
»Da habe ich ja einen Enkel mit wahrhaft eindrucksvoller Zukunft!« meinte er. »Hoffentlich erlebe ich noch deine Wahl zum Bundeskanzler!«
»Ich gehe lieber in die Forschung. Da muß man einen nicht ganz so miesen Charakter haben wie in der Politik!«
»Hört, hört!« Wenden hob die Brauen. »Du könntest ja der Idealist sein, der die Welt rettet!«
»Dazu braucht es mehr als einen«, erwiderte Jakob trübe, und Ursula, die dieses Thema langweilig fand, erkundigte sich wieder nach den Sturmecks:
»Kennst du auch die Zwillinge, Opa?«
»Zwillinge?«
»Ja. Zwei tolle hübsche Mädchen. Aber ganz verschieden.«
»Zweieiige, du Klassenbeste!« warf ihr Bruder ein. Sie streckte ihm die Zunge raus.
»Das ist doch klar, wenn sie verschieden sind!«
»Nein, ich habe nur die alte Dame besucht. Ach ja: was macht ihr heute nachmittag?«
»Warum?« wollte Ursula wissen.
»Ich muß nochmals zur Gräfin und nachsehen, wie es ihr heute geht«, gab Wenden zur Antwort.
»Ich habe morgen Latein-Schularbeit«, seufzte Jakob. »Könntest du mich später abfragen?«
Wenden überlegte einen Moment.
»Bis sechs Uhr bin ich spätestens zu Hause.«
»Das ist aber ein langer Krankenbesuch«, stellte Ursula fest. »Bis in den späten Nachmittag!«
»Wenn es ihr besser geht, bleibe ich noch zum Kaffee.« Wieso erzähle ich das den neugierigen Fratzen? dachte Wenden.
»Donnerwetter! Opa, Vorsicht!« zog ihn Jakob prompt auf.
»Denke lieber an deine Lateinarbeit als an solchen Unsinn«, erwiderte Wenden etwas ärgerlich, nur mit dem Erfolg, daß Jakob wissend schmunzelte und Ursula wieder einmal kicherte.
Zur gleichen Zeit stellte Auguste Sturmeck fest, daß sie sich heute viel wohler fühlte, und als Emma mit dem Frühstückstablett kam, erklärte sie, daß sie wie immer im Rokoko-Salon frühstücken wolle.
»Nichts da, Frau Gräfin«, gab Emma streng zur Antwort und stellte das Frühstück auf das Betttischchen. »Sie bleiben mindestens bis heute nachmittag im Bett. Sonst liegen Sie gleich wieder auf der Nase! Guten Morgen, übrigens!«
»Guten Morgen!« Auguste lachte.
»Sie haben ja recht. Im Bett fühlt man sich immer stärker, als wenn man dann aufsteht.«
»Gut, daß Sie das einsehen, Frau Gräfin. Der Herr Dr. Wenden hat mir nämlich ausdrücklich befohlen, auf Sie aufzupassen.«
»Soso, hat er«, lächelte Auguste und betrachtete das langweilige Krankenfrühstück: leichten schwarzen Tee, Toast, Butter – aus. »Aber heute nachmittag gibt es doch etwas Ansprechenderes, oder hat Dr. Wenden da auch seine Vorschriften hinterlassen?«
»Für Frau Gräfin Tee mit Toast und eventuell etwas Konfitüre, und für den Herrn Doktor habe ich einen Sandkuchen gebacken.«
»So etwas!« tat Auguste empört.
»Ja, weil Sie den vielleicht auch essen dürfen – wenn es Ihnen besser geht und der Herr Doktor es Ihnen erlaubt, Frau Gräfin«, sagte Emma völlig unbeeindruckt.
Auguste seufzte.
»Dann passen jetzt ja schon zwei auf mich auf!«
»Seien Sie froh, Frau Gräfin, daß Sie jemanden haben, der sich um Sie kümmert!«
»Das bin ich, Emma! Wirklich. Ich weiß durchaus, was ich an Ihnen habe. Hat sich meine Familie gerührt?«
»Die Komteß Ekatarina hat angerufen und sich erkundigt, wie es Ihnen geht. Sie schickt Ihnen viele Grüße und Küsse, und sie sind alle heute in Schönhausen.«
»Ach ja, ich erinnere mich.« Auguste trank einen Schluck von dem ungesüßten Tee. »Sie sagten das bereits gestern. Aber dazu fühle ich mich wirklich noch nicht gut genug.«
Emma nickte zustimmend. Das wäre ausgemachter Unsinn.
Auguste trug ihr auf, im Terrassenzimmer zum Kaffee zu decken. Da schien nachmittags die Sonne hinein, und vielleicht konnte man sogar die Tür offen stehen lassen. Die Rankrosen, die bis herauf über die Balustrade wuchsen, waren so wunderschön!
»Und lassen Sie sich von Herrn Clausen«, das war der Schloßgärtner, »Blumen für die große Bodenvase geben. Achten Sie darauf, daß er sie lang genug abschneidet. Und decken Sie mit dem Fürstenberger Vogelservice, und auf den Tisch stellen Sie bitte die bauchige Silbervase mit rosa und roten Rankrosen. Zeigen Sie sie mir, wenn Sie alles fertig haben!«
»Als ob ich das nicht immer so machte«, brummte Emma ein wenig gekränkt. Schließlich war sie lange genug bei der Gräfin, um zu wissen, wie sie alles wollte.
»Was gibt es mittags?«
»Hühnerbrühe«, war die muffige Antwort.
»Ach, Emma, seien Sie nicht so streng mit mir!« zog Auguste sie auf.
Aber es war zu spät! Emma verließ mit dem Frühstückstablett das Zimmer und machte die Tür energisch hinter sich zu. Nun, bis zur nächsten Mahlzeit hatte sie sich wieder beruhigt!
Auguste lehnte sich lächelnd zurück. Aber eigentlich hatte sie recht! Schließlich kannte sie die Wünsche ihrer Herrin. Nur dieses Mal lag ihr daran, daß alles wirklich besonders schön gerichtet war.
Eigentlich hatte sie nur wenige Freunde. Natürlich traf man sich bei offiziellen Anlässen, Familienfesten aller Art – aber daß jemand sie spontan besuchte, war eher selten. Sie blieben im Schloß bei Gotthard und Eliane. Es war ja verständlich. Sie war eben alt! Und die in ihrem Alter waren fuhren nicht mehr in der Gegend herum, um Besuche zu machen. Das war ein Nachteil des Landlebens.
Aber in die Stadt ziehen, wo sie sich an einer Bridge-Runde beteiligen könnte, interessante Museumsführungen mitmachen, ein Theater- und Konzert-Abonnement sich halten – das war zweifellos alles sehr verlockend! Aber – allein?
Als ihr Mann noch lebte, hatten sie beide sich das für später vorgenommen: eine