Vor dem Ortseingang blieb er stehen; die Scheinwerfer hatten sich endgültig in der Nacht verloren. Felix stieg fluchend aus, suchte die Straße.
»Wir sind da«, rief er vom Wegrand.
Susanne erschrak, weil seine Stimme fremd klang, wie vom Wind verzerrt; die Haut in seinem Gesicht sah aus wie gesprungenes Eis.
Felix starrte nach vorn, wie auf der ganzen Fahrt; sein Gesicht brütete im Dunkel des Wagens, dessen Heizung abgestellt war. Er spürte den Blick des Mädchens auf seinem Gesicht. Die Reifen polterten auf dem schlechten, nassen Pflaster. Die Gebäude gähnten. Der Wagen fuhr eine lange Schleife aus und dann auf den idyllischen Marktplatz zu, dessen Häuser Wand an Wand standen, als wärmten sie sich aneinander.
Der Wagen hielt, Felix stieg aus; Susanne folgte ihm fröstelnd zum Eingang, der finster war, verdunkelt wie im Krieg. Sie gingen einem spärlichen Lichtschein nach und traten in ein Nebenzimmer.
»Ich komme gleich wieder – es geht ganz schnell«, sagte Felix. Er drehte sich noch einmal um. »Bis gleich.«
Ein müder Kellner begrüßte Susanne mißmutig, betrachtete ihr Gesicht, lächelte unschlüssig. »Wie lange haben Sie auf?« fragte sie.
»Die ganze Nacht«, erwiderte der Mann; seine Stimme dämpfend, deutete er auf einen Tisch mit mehreren Frauen in der Ecke, die still waren und alt und grau dasaßen, vom Leben verbraucht. »Wegen ihnen«, sagte der Kellner. »Unsere Zimmer sind besetzt – wir müssen den Raum offenhalten für sie.« Er sah, daß Susanne die Andeutungen nicht verstand, und ergänzte mit blassem, unsicherem Lächeln: »Ihre Männer werden doch morgen früh – gehängt …«
Susanne verstand, erschrak; sie ließ sich eine Zeitung bringen und versteckte ihr Gesicht. Ihre Hände wurden müde, aber sie wagte nicht, das Blatt sinken zu lassen; sie wollte den Augen dieser Frauen nicht begegnen.
Sie wirkten wie die Besucher vor den Operationssälen, die in ihrer Not jeden, der über den Gang kommt, ansprechen und nach dem Zustand des Patienten fragen. Sie hatten vor ein paar Stunden von ihren Männern Abschied genommen, grausamen endgültigen Abschied; seitdem sahen sie auf die Uhr, froren dabei, dachten an die Operation, hofften, daß sie ausfiele, obwohl sie wußten, daß sie morgen früh stattfinden müßte.
Viele von ihnen hatten seit Jahren geahnt, daß dieser Morgen einmal kommen würde. Nicht wenigen von ihnen war von den Männern in der Rotjacke vieles angetan worden, aber sie hatten es vergessen, weil sie Mütter waren und Kinder hatten: Kinder, deren Väter morgen früh gehängt wurden.
Sie starrten die Reporter an, die gelegentlich, leise auftretend, in den Raum kamen, als erwarteten sie von ihnen Hilfe, obwohl diese Zeitungsleute von der Militärregierung als Zeugen der Hinrichtung geladen waren, ein befehlender Wunsch, dem sie nachkamen; einige von ihnen taten es nicht zuletzt, weil er mit Schinkenbrötchen und Bohnenkaffee honoriert wurde.
Felix hatte sich auf dem Weg zum Gefängnis verfahren; endlich löste sich das mehrflügelige Gebäude aus den Nebeln. Posten in dunklen Uniformen tauchten auf, sprachen miteinander und verloren sich wieder am schwarzgelben Horizont.
In den Zellen brannte kein Licht; die Herberge des Todes lag im Dunkel: mehr als tausend Zellen waren belegt; morgen würden zweiundvierzig frei.
Felix stellte den Wagen im Hof ab und betrat das Verwaltungsgebäude. Die polnischen Posten wollten ihn aufhalten, erkannten ihn dann als US-Offizier und grüßten.
Der Kommandant des Kriegsverbrechergefängnisses war noch in seinem Büro, obwohl er längst im Bett sein sollte; er konnte nicht schlafen in solchen Nächten und hatte sich schon ein paarmal von Landsberg weggemeldet.
Er riß die Fenster auf, durch die sich die Nacht in das Haus drängte. Er fror und schwitzte, seine Hand fuhr an den Hals, um die krawatte zu lockern, bis er bemerkte, daß sein Hemd schon offenstand. Er legte das Buch beiseite und polierte seine Fingernägel. Zwischendurch versuchte er, einen Brief an seine Frau nach Philadelphia zu schreiben; er zerriß ihn in kleine Schnipsel.
Der Kommandant hörte Stimmen, ging in sein Vorzimmer, erkannte Felix. »Sie kommen spät«, sagte er.
»Sorry – ich habe es erst vor einer Stunde erfahren, daß …«
»Wir bekommen selbst erst am Abend die Hinrichtungsliste aus Berlin«, entgegnete der Major dumpf. »Ich lasse Ihren Mann in das Besuchszimmer holen.« Felix folgte einem massigen Sergeanten, der ihn mit Neuigkeiten über die Rotjacken unterhalten wollte; der junge Captain hörte nicht zu. Er zwang sich, seinen Vater zu sehen, auf dessen Gesicht sich der Flammenschein der Synagoge spiegelte, zu sehen, wie der Mörder auf den Kommerzienrat zuging, die Hand hob, zu sehen, wie ihn die Männer in den Braunhemden zertraten.
Auch der Todeskandidat Friedrich Wilhelm Ritt hob jetzt die Hand; sie war gefesselt. Der Posten schloß sie auf und zog sich zurück. Der Mann ging wie gezogen; seine Beine schleiften am Boden, während er langsam den Kopf dem Besucher zuwandte. In seinem Gesicht zitterte Hoffnung, lauernd, bang. An seiner Rotjacke hing die Todesangst wie ein übler Geruch.
Er erkannte den jungen Captain; sein Blick wurde starr; seine Hoffnung riß wie die Sehne eines überspannten Bogens.
»Sie?« fragte Ritt. »Ihnen verdanke ich das also?«
»Erfaßt«, entgegnete Felix Lessing ruhig. Er hatte auf diesen Tag lange gewartet; jetzt wunderte er sich, wie wenig er spürte.
»Ich habe die Sache mit den abgeschossenen Fliegern niemals …«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Felix ruhig. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Flamme zitterte.
»Sie wissen das?« fragte Ritt.
»Noch viel mehr«, antwortete der junge Captain. »Ich weiß auch, was mit meinem Vater geschah – und mit Martin, Ihrem Sohn. Ich weiß auch, daß er noch leben würde, wenn Sie …«
»Martin?« stieß der alte Mann mit Kinderstimme hervor. Er sah zur Decke, als müsse er überlegen, wem der Namen galt.
»Auch daran sind Sie schuld«, sagte Felix scharf.
Der Mann in der Rotjacke dachte nach. Langsam. In seinem fahlen Gesicht gärte es.
»Dann wäre das morgen …«
»… ein Justizmord«, unterbrach ihn Felix.
»Das sagen … Sie?«
»Ich habe die Zeugen erpreßt«, sagte Felix, »und bestochen.« Der Schall rauschte wie Hochwasser im Raum.
»Und warum sind Sie jetzt hier?« fragte der Gefangene nach langer Pause.
»Um Ihnen das zu sagen.«
»Macht es Ihnen Freude?« fragte der Alte.
»Wäre ich sonst gekommen?« versetzte Felix. »Lassen wir das«, versuchte er, die Worte, vor denen ihm schlecht wurde, wieder einzuholen. »Ich will Ihnen nur beibringen, daß Sie trotz des Fehlurteils zu Recht sterben. Verstehen Sie mich, Ritt? Ein Justizmord – und doch Gerechtigkeit.«
Der Alte stand da, als habe er den Besucher vergessen.
Er versuchte, etwas zu erfassen, das er sein Leben lang nicht empfunden hatte. Niemals hätte er sich mit dem Urteil abfinden können – und jetzt begriff er leise, dunkel, daß es gerecht war – wenn auch falsch begründet.
Felix wußte nichts von den Regungen des Mannes in der Todesjacke; er sah, daß dieser gefaßt wirkte, wollte darüber zornig werden – und spürte, wie ihn der Haß verließ.
»Gut«, sagte der Mann, dem nur noch ein paar Stunden Zeit zum Leben blieben, »ich bin schuld am Tod Ihres Vaters.« Er sprach jetzt, als deklamiere er einen auswendig gelernten Text: »Ich bin vielleicht auch mitschuldig am Tod Martins.« Er schwieg, wie erschöpft von einer Regung des Gewissens, das lange Jahre verschüttet war.
»Und damit, meinen Sie«, sagte Felix halblaut, »könnten wir den Fall abschließen und wären quitt.«
Der