Das berüchtigte KZ Dachau wurde zum Umschlagplatz der braunen Schuld. Die Baracken um das Krematorium, die sich wie häßliche Warzen im Gesicht der Landschaft ausnahmen, vor kurzem noch Unterkünfte gequälter Häftlinge, waren jetzt bereits Veteranen im Dienst alliierter Gerechtigkeit.
Täglich wurde in einem Dutzend Holzbuden über Hunderte von Verbrechen befunden. Die Richter waren wie Ärzte, die während des Andrangs bei der Unfallambulanz gezwungen sind, gleichzeitig an mehreren Tischen zu operieren.
Friedrich Wilhelm Ritt saß in Einzelhaft und hielt Schattenplädoyers gegen eine Anklage, die er erwartete. Der Jurist in ihm wurde mit der sülzartigen Trance fertig, die sein Bewußtsein überzogen hatte. Wer sollte jetzt, nach so vielen Jahren, noch feststellen, welcher Stoß oder welcher Stich den Tod des alten Lessing verschuldet hatte? Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, dachte der alte Ritt, kann man mich nicht hängen, sondern höchstens wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilen. »Hohes Gericht«, murmelte er in das Halbdunkel der Zelle, aber es antwortete ihm immer nur die eigene Stimme, »Hohes Gericht …«
Man trennte Ritt von Angeklagten und Zeugen. Er hoffte, daß die Kameraden der Kristallnacht herangekarrt wurden, denn er rechnete sich aus, daß die Schuld des einzelnen kleiner würde, wenn sich mehrere Täter in sie teilten. Seltsam, wie lässig die Amerikaner die Voruntersuchung betreiben, dachte er, weder wurde er anderen Zeugen gegenübergestellt noch überhaupt vernommen. Auch der junge Lessing ließ sich nicht mehr sehen.
Ein US-Captain, der nichts mit der Rechtssprechung zu tun hatte, aber als unnachsichtiger Ankläger auftrat, besuchte im Internierungslager einen Zeugen.
»Hören Sie gut zu, Silbermann«, begann Captain Lessing, »es handelt sich um Ihren Freund Ritt.«
Silbermanns Kiefer mahlten stumm. Seine Blicke wanderten im Raum, blieben am Fenster hängen.
»Mein Vater war – Deutscher. Die Alliierten verfolgen keine Verbrechen, die an Deutschen begangen wurden. Eine deutsche Justiz gibt es jetzt und lange noch nicht – und wenn es sie eines Tages wieder geben sollte, weiß ich nicht, wie sie aussehen wird. Ich könnte Ritt an Polen oder Rußland ausliefern lassen, aber ich will meine eigene Strafe …« Felix betrachtete seine Fingernägel. »Sie, Silbermann, haben Ihre Frontbewährung bei einem Einsatzkommando im Osten abgelegt, Sie haben mitgeholfen, Tausende jüdischer Verdammter in den Tod zu jagen«, wieder betrachtete er seine Fingernägel, »und ein paar haben Sie auch laufenlassen.« Er sah, daß Silbermann sprechen wollte, und schnauzte: »Ich rede, nicht Sie. Ich rechne Ihnen das nicht an – Sie haben es auf eigene Rechnung getan. Sie haben ein Geschäft getätigt, gut. Ich schlage Ihnen einen neuerlichen Handel vor.«
Er drehte sich um, als könnte er den Anblick des Internierten nicht länger ertragen.
»Sie kennen Ritt – Sie wissen, was der Mann auf dem Gewissen hat. Liefern Sie mir einen Grund – ein Verbrechen, verübt an westlichen Alliierten –, wenn Sie das besorgen – verstehen Sie mich?«
»Ja«, antwortete Silbermann. Es war fast nicht zu hören. Seine Zunge fuhr über die Lippen. Sein eingefallener Birnenkopf schwoll vor Angst und Erregung.
»Sie werden mir einen Grund liefern – einen Grund, den ich nicht weiter untersuchen werde. Erledigen Sie das nicht, und zwar umgehend – dann werde ich Ihre Frontbewährung näher durchleuchten lassen …«
»Wenn ich etwas finde …« Die Angst zersetzte Silbermanns Gesicht, seine Lippen zitterten, »werden Sie dann nichts mehr gegen mich unternehmen?«
»Nichts«, antwortete Felix.
»Und wenn Sie dieses Versprechen nicht halten …?«
»Dann haben Sie Pech gehabt«, erwiderte Felix; er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Nach einigen Wochen steckte man Friedrich Wilhelm Ritt in eine der Gruppen, die jeweils die Reihen der Anklagebänke füllten. Er erhielt eine Nummer, und er erfuhr, daß er wegen der Ermordung zweier farbiger US-Flieger belangt würde.
Er verstand die Anklage nicht, und es war sein Irrtum, daß er sie für ein Versehen hielt. Selbst als ihn sein Anwalt besuchte, der mit geübtem Lächeln, raschem Händedruck und behenden Worten dem Angeklagten klarmachen wollte, welches Urteil ihm drohte, glaubte er, daß sich das Verhängnis während der Verhandlung wie ein Spuk auflösen würde.
Es gab viele Dinge aus dem braunen Jahrzwölft, die man ihm vorhalten konnte, aber hier fühlte er sich unschuldig. Bei diesem Verbrechen hatte er in seinem Büro gesessen und betroffen verfolgt, wie zwei alliierte Soldaten vom Werkpöbel gelyncht wurden. Er war entsetzt gewesen, wenn er öffentlich auch ganz anders gesprochen hatte.
Am Tag der Verhandlung trugen die MP-Soldaten Silberhelme und weiße Koppel. Der Ernst in ihren gesunden Gesichtern war aufgesetzt wie eine Brille; wenn niemand zu diesen martialisch kostümierten Burschen hinsah, gähnten sie, denn dieser Wartesaal in die Ewigkeit langweilte sie längst.
Friedrich Wilhelm Ritt betrat als vierter von links die Verhandlungsbaracke; er hatte die Nummer acht und saß unter Bauern, Arbeitern und kleinen Bürgern, die man alle des gleichen Verbrechens anklagte, verübt an verschiedenen Orten: der Ermordung alliierter Flieger.
Sein Blick tastete sich vorsichtig durch den Raum, streifte ein paar Reporter. Er bedauerte sie fast, weil sie wegen Papiermangels nicht viel schreiben konnten und, was ihn betraf, vergeblich erschienen waren. Sein Blick blieb auf der Holzbalustrade des Angeklagtenpferches hängen. Er las eingeritzte Namen, sah eine zotige Zeichnung, unter der mit dem Messer eingeschnitzt war: Heil Hitler.
Er erhob sich beflissen, als er aufgerufen wurde. Zunächst erschienen drei frühere Betriebsfunktionäre, die mit verschiedenen Worten das gleiche aussagten: daß Friedrich Wilhelm Ritt, Inhaber der gleichnamigen Werke, vormals Lessing & Kahn, die alleinige Schuld am Tod der beiden Amerikaner trage.
Der Angeklagte begriff es nicht. Dann soufflierte ihm der Zorn. Irgendein Drahtzieher mußte im Hintergrund eine Intrige geknüpft haben.
Dann war Ritt erleichtert, als er Silbermann sah. Der frühere Mitkämpfer nannte seine Personalien, gab als Beruf Kaufmann an und sagte aus, am Tag der Untat im Auftrag des Gauleiters den Betriebsführer Friedrich Wilhelm Ritt auf seinem Werksgelände besucht zu haben.
Silbermann nahm die stramme Haltung ein, die aus der Mode war. Dann sprach er klar und ungeheuerlich, denn er bestätigte, oft über die Aussagen der ersten drei Belastungszeugen hinausgehend, die Darstellung des Anklägers.
Der Angeklagte stand da wie ein vom Blitz getroffener Baum. Seine vom Körper weit weggestreckten Arme sahen aus wie eben abgesplitterte Äste.
»Er lügt!« schrie er in den Saal. »Es ist kein Wort wahr!« Er lügt, um seinen Kopf aus der …«
Zunächst wurde der Angeklagte Ritt verwarnt.
Sein Verteidiger redete beruhigend auf ihn ein, obwohl auch er überrascht war. Da der Zeuge erst heute von der Anklage benannt worden war, kam seine Aussage auch für den Rechtsanwalt überraschend.
»Ruhig bleiben«, zischte er seinem Mandanten zu.
Doch Friedrich Wilhelm Ritt riß sich los, hastete nach vorn, an den Richtertisch heran. Einer der bulligen MPs wollte ihn zurückreißen, aber der Richter mit den weißen Haaren in der Mitte des Podiums winkte dem Mann ab.
»Herr Oberst«, beteuerte Ritt weinerlich, mit einer Stimme, die sich wie eine Schraube in den Windungen nach oben drehte, »das ist eine Lüge, eine Verschwörung! Ich bin unschuldig, un-schul-dig!«
Er redete gegen eine Wand, von der nur sein eigenes Echo zurückkam, er ging auf Silbermann los, mit beschwörenden, bestechenden Worten:
»Du bist verrückt – überleg dir das, Egon, es kann doch nur ein Irrtum sein! Bleib bei der Wahrheit! Laß dich doch nicht verrückt machen! Du weißt doch – du bist doch erst am Abend gekommen, damals – und ich war in meinem Büro – ich bin überhaupt erst auf das Außengelände gekommen, als schon alles vorbei und vorüber war –.« Ritt betrachtete den