er verzweifelte.
Die alliierten Truppen erreichten Deutschlands Westgrenze. Felix Lessing wurde zum Captain befördert, gegen seinen Willen aus der kämpfenden Truppen gezogen und, weil er Deutsch wie ein Deutscher sprach, der Abteilung für psychologische Kriegführung zugewiesen. Er war verwundert und verärgert, wie leicht ihm die Muttersprache fiel.
Felix vernahm Gefangene und sprach Propagandasendungen. Seit Wochen kam er erstmals mit deutschen Zivilisten zusammen, mit Frauen, Kindern, Ruinen. Noch immer nährte er seinen Haß. Er schirmte sich gegen außen ab; aber seine verwundbarste Stelle lag im Innern, war sein Herz, ein Erbteil des alten Kommerzienrates, das die Mordbrenner nicht arisieren konnten.
Felix stemmte sich dagegen; er sah an Frauen vorbei, durch Kinder hindurch und erlaubte sich nur den Blick auf Grauen, Gräber und Greuel. Er trank, fluchte und schuftete für die Propaganda, an die er nicht mehr glaubte; er hielt sie für nötig und wußte, wie töricht sie war; er merkte, daß er log, und trank noch mehr.
Sie lachten und stöhnten in einem Atem, im selben Takt. Das Gesicht der jungen Frau glühte wie im Fieber. Sie liebte unter Zeitdruck, rasch und gierig. Sie fragte nicht, woher Felix kam, und wollte nicht wissen, warum er so gut deutsch sprach; sie sah nicht mehr, daß er eine andere Uniform trug als ihr Mann.
Sie hatte das Krachen der Bomben satt und das Krepieren der Granaten, das Warten auf die Post und die Schlange vor dem Milchladen, die Sorge um ihr Kind, und so hatte sie den Händen und Lippen des Fremden entgegengefiebert, der langsam Feuer fing und begriff, daß sie den Mann und keine Schokolade wollte.
Felix wütete gegen die Frau und gegen sich. Er litt, weil ihm die Frau gefiel. Er zitterte vor dem Verlangen; und er sagte sich im Hin und Her, im Auf und Ab, wieder und noch, daß es gleich sei, ob seine Lust einer Araberin, einer Japanerin, einer Italienerin oder einer Deutschen gelte.
Einer Deutschen …
Das Wort machte sich breit, wälzte sich durch seinen Kopf, setzte sich auf seinen Haß und lächelte spöttisch.
Felix richtete sich auf.
»Was hast du?« fragte die Frau flüsternd.
»Ich muß dir etwas sagen.«
»Komm«, erwiderte sie und legte ihre Arme um seinen Nacken, zog ihn an sich.
»Ich bin Jude«, sagte er.
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Dann horchte sie. Nebenan weinte das Kind.
»Verstehst du nicht?« Seine Hände griffen nach ihren Schultern. »Ich bin Jude – ein Jude! Ihr habt meinen Vater ermordet …« Er atmete in keuchenden Stößen. »Und habt vergessen, auch mich zu … zu …«
»Komm!« sagte sie leise, weich.
»Das ist Rassenschande!« schrie er sie an.
Es waren nicht seine Worte, es war sein Gesicht, das sie so fürchtete. Felix nahm es fälschlich als eine Bestätigung, und er war ihr dankbar dafür.
Als er sich anzog, stieß er Unflätigkeiten aus. Sie befreiten ihn von der Scham über seinen Verrat, gaben ihm den Haß zurück, nahmen ihm die Lust an wütender Zärtlichkeit mit dieser Frau und die Enttäuschung darüber, daß sie sich ihm gegeben hatte, ohne daß er sie kaufen mußte – daß er kein Geschäft getätigt, sondern ein Geschenk erhalten hatte. Morgen wollte er es mit einer Kiste Lebensmittel zurückweisen.
Er kam nicht mehr dazu.
Als Felix die Tür zugeschlagen hatte und mit dem Jeep losgerast war, um die Sehnsucht nach dem warmen, weichen Körper, den er verlassen hatte, im Alkohol zu ertränken, rasselte der Alarm: durch einen Zufall war die Eisenbahnbrücke von Remagen nicht gesprengt worden, was die US-Soldaten die Ruhepause am Rhein kostete; sie fielen stürmisch nach Germany ein, unter ihnen Captain Lessing, der endlich mit dem Mörder seines Vaters abrechnen konnte.
VI
Schon bevor die amerikanischen Panzertruppen den Main erreichten, hatten sich der Wehrwirtschaftsführer und Reichstagsabgeordnete Friedrich Wilhelm Ritt in ein kleines Jagdhaus im Taunus zurückgezogen, das von ihm heimlich und vorsorglich erworben worden war, da er auf eine Flucht in die angebliche Festung Alpenland verzichten wollte: Ritt sagte sich richtig, daß die Alliierten, so sie Frankfurt nähmen, in kurzer Zeit auch Oberbayern überrollen würden.
Er hatte sein Versteck mit Behaglichkeit ausgestattet, soweit ihr die Umstände nicht Grenzen zogen; hier wollte der alte Ritt die Wirren des Zusammenbruchs überleben.
Er wußte nicht, daß er gleich beim Einmarsch von einem Kameraden gemeldet worden war, der kein schützendes Schlupfnest hatte und ins Lager mußte. So wurde Ritt schon ein paar Tage später von einem Jeep überrascht, der den Waldweg entlangrollte und vor dem Jagdhaus hielt. Drei GI’s umstellten es mit der Waffe im Anschlag; der vierte hämmerte mit dem Gewehrkolben gegen die Holztür.
Mit zitternden, erhobenen Händen und einem Gesicht, das von Angst verzerrt war, trat der Hausherr aus der Tür.
Die US-Streife fand bei der Durchsuchung des Blockhauses ein üppiges Lebensmittellager, abenteuerliche Zivilkleidung, falsche Ausweispapiere und einen vorbildlichen Weinkeller, über den die Soldaten herfielen, weshalb sie vermutlich ein Bündel mit Dokumenten übersahen, die Ritt zu einer neuen Zukunft im Ausland verhelfen sollten: diese Papiere wären nicht nur ein Braunbuch seiner Vergangenheit gewesen, sie hätten auch dem Alliierten Militärtribunal Aufschlüsse über Untaten abzuurteilender Verbrecher geben können.
Die GIs sahen in dem Verhafteten mehr einen schwächlichen Sonderling als einen gefährlichen Nazi. Sie schafften ihn mit anderen Gefolgsleuten des Führers, die von allen Seiten zusammengekarrt wurden, in ein Internierungslager. Die Elite von gestern bezog morsche, verschmutzte Baracken, die sie zuvor für russische Kriegsgefangene hatte errichten lassen, woran sie nicht dachte, als sie sich über die unwürdige Unterkunft beschwerte.
Diese Gefolgsleute des Führers erwiesen sich nicht mehr als seine alte Garde, die durch Nacht zum Licht marschierte, sondern als eine Horde verwirrter, mißtrauischer oder weinerlicher Männer, die zuviel voneinander wußten und noch mehr preisgaben.
Viele der Herrenmenschen hatten wieder zu ihrer kleinbürgerlichen Herkunft zurückgefunden. Unter den ältesten Kämpfern der Bewegung gab es nach dem Zusammenbruch die erfolgreichsten Denunzianten. Der Verrat wurde im Lager fett wie ein Mastschwein; man tat es aus Angst oder aus Liebedienerei, für eine Zigarette oder einen zusätzlichen Schlag Suppe. Man verkaufte die Kameraden, den Vorgesetzten, den Mitkämpfer; die Internierten unterschrieben wilde Anklagen gegen den Stubengenossen, mitunter auch falsche.
Die verschworene Gemeinschaft, die Friedrich Wilhelm Ritt immer gepredigt hatte, erlebte er nun in der Praxis: Gestern war ihm ein Kanten Brot gestohlen worden, heute fehlte ein Stück Seife. Er hinkte, weil er, als er sich nach der Zigarettenkippe eines Wachtpostens bükken wollte, von einem alten Kameraden gegen einen Zementpfosten geschleudert worden war.
So paradox es schien: körperlich ging es ihm seit seiner Festnahme besser als zuvor. Er arbeitete in frischer Luft; der Entzug des Alkohols und das einfache Essen bekamen seiner Leber; sein zerlaufenes Gesicht wurde fester und verlor die Blässe.
Selbst die Angst, die ihn anfänglich nachts gequält hatte, verlor sich allmählich.
Es geschah nicht viel im Lager.
Eigentlich, dachte Friedrich Wilhelm Ritt, sind diese Amerikaner ganz anständige Burschen. Gewiß, das Essen war schlecht, und viel militärische Disziplin zeigten die Wachtposten auch nicht. Aber da war doch, so meinte er, unverkennbar das angelsächsische Element, die nordische Verwandtschaft: Sauberkeit, Haltung, Ordnung.
Das Lager zerfiel in Cliquen, die einander bekämpften.
Einige Internierte wurden als Zeugen nach Nürnberg gerufen, andere als Angeklagte zu den Kriegsverbrecherprozessen nach Dachau überstellt. Die ersten deutschen Anwälte besuchten die Häftlinge, und die ersten Insassen wurden entlassen.
Vom Blockleiter bis zum Gauleiter