aber nichts daraus mache. Die Art, in der sie über Männer sprach, in der sie ihre Selbständigkeit, den gleichen Rang der Geschlechter betonte, die heftige Beteuerung, sie habe das Jurastudium gewählt, um auch als Frau unabhängig zu bleiben, schienen ihm ein handfester Komplex zu sein.
Auf einmal faszinierte ihn, wohl weil er zuviel getrunken hatte, der Unsinn, daß dieses Mädchen, das in Lazaretten vor verwundeten Soldaten sang und Hefekuchen verteilte, die Männer pauschal verachtete.
Auch Bettina hatte getrunken. Ihre Worte wurden schneller, ihre Bewegungen hektischer. Als der Hauptmann einmal mechanisch nach ihrer Hand griff, stieß Bettina sie weg, als spüre sie Ekel, was ihn mehr belustigte als verärgerte.
Er stand auf und suchte ein anderes Mädchen, um aus dem Abend vielleicht doch noch etwas zu machen, aber Bettina folgte ihm, rückte an ihn heran, ihn stets ihrer Abneigung versichernd. Er trank weiter und spürte auf einmal eine frivole Lust, dieses virile, hübschbeinige, blaustrümpfige Geschöpf zu verführen – ein Spiel auf der Durchreise, eine Gewohnheit des Soldaten, in der Pause des Sterbens.
Martin richtete sich auf energischen Widerstand ein und versuchte, ihn mit wissenden Händen zu umgehen, aber zu seiner Überraschung preßte sich das seltsame Mädchen mit einem solchen Ungestüm an seinen Körper, daß er, statt anzugreifen, einen Moment lang vor ihr zurückwich.
Er begleitete sie nach Hause, und ihm schien, als würde er abgeführt. Bettina nahm ihn mit in ihr Zimmer, das einfach war, aber kleinbürgerlich, und noch im Stehen warf sie sich wieder an seine Schultern.
Er sah über sie hinweg, über ihre glatten, nach Männerart geschnittenen Haare, sah den Riß in der Wand, der wie eine Stirnfalte wirkte und mit dem Wochenspruch der Partei verklebt war: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
Nietzsche, dachte er, du gehst zu Frauen – er lächelte höhnisch. Wer nimmt schon eine Peitsche zur Lazarettbescherung mit? Da schlug ihre Sinnlichkeit über ihm zusammen, die ungestüm war, unerfahren, sie krallte sich in seine Arme, drückte ihn an sich, als presse sie ihn weg. Ihre Gier wurde laut, bewegt, heftig, und nebenan klopfte der Zimmernachbar an die Wand. Aber Bettina hörte es nicht.
Sie keuchte, stöhnte, schluchzte, obwohl ihre Lippen geschlossen waren wie ein noch nicht aufgeschnittenes Buch, und während Ritt sie nahm, hatte er die Empfindung, daß ihm Gewalt geschehe, und als er von ihr abließ, ihrer wie des Alkohols müde, ließ sie ihn nicht zur Ruhe kommen: ihr Mund kroch ihm über die Haut wie eine Schnecke. Er wartete ergeben auf den Morgen, er hatte noch nie so ungeduldig dem Fronturlauberzug entgegengesehen, der ihn wieder hinausbrachte.
Er schlüpfte in seine Uniform, wollte gehen, ohne sich umzudrehen, überlegte es sich anders, kam noch einmal zurück und beugte sich zu Bettina hinab, die endlich schlief. Er legte ein angebrochenes Päckchen Zigaretten auf ihren Nachttisch. Schlaftrunken wachte sie auf, und Martin küßte sie flüchtig, mit einigem Mitleid, weil sie doch offensichtlich ein wenig verrückt war, und mit viel Erleichterung darüber, daß er ihr im Leben voraussichtlich nie wieder begegnen würde.
Monate später geriet er in den Kessel von Stalingrad. Bettina teilte ihm in einem Feldpostbrief mit, daß das Spiel auf der Durchreise »nicht ohne Folgen geblieben« sei. Zuerst war der junge Hauptmann nur überrascht, dann verwundert, und zuletzt sagte er sich, daß etwas geschehen müsse. Er schien an der Front sowieso keine Chance mehr zu haben, und der eine Satz des Briefes, der sich sonst nicht weiter mit Gefühlen aufgehalten hatte, rumorte in seinem Bewußtsein: das Kind sollte einen Namen haben.
So entschloß er sich kurz vor der russischen Offensive, diesem Kind den Vornamen seiner Mutter Germaine und den Nachnamen Ritt zu geben. Die Ferntrauung fand einen Tag vor dem Trommelfeuer statt, mit dem die Russen ihren Stoß auf Stalingrad einleiteten. Ritt wurde verwundet und aus dem Kessel geflogen; ein Oberschenkelschuß, der gerade für das Feldlazarett reichte.
Er kam wieder an die Front, das Kind zur Welt. Bettina, die er nie wiedersehen wollte und die trotzdem seine Frau geworden war, teilte ihm mit, daß sie kurz vor dem Referendarexamen stehe und daß sie übrigens das Baby Petra getauft habe, statt ihm den unzeitgemäßen Namen Germaine zu geben.
Mit seiner Verhaftung riß die Verbindung dieser Kriegsehe ab, und so erfuhr Martin erst heute, als Auftakt der Verhandlung, daß Bettina Ritt, geborene Dahlberg, Rechtsreferendarin in Frankfurt, unverzüglich gegen ihn die Scheidung eingereicht und durchgesetzt hatte, wobei im Urteil ihm die Schuld und ihr das Kind zugesprochen wurde.
Er hatte gleichgültig darüber gelächelt.
Bettina mochte er nicht, und Petra kannte er nicht, weshalb sie ihm auch nichts bedeutete; man kann ein Kind nicht lieben, das man nicht kennt, sagte er sich, womit seiner Meinung nach alles geregelt war.
»Vielleicht ist es auch besser«, sagte der Vorsitzende, »Sie halten den Mund – was Sie uns zu sagen hätten, wissen wir ohnedies.« Er lächelte fahrig, »Bitte«, nickte er einem Hauptmann zu, dessen rote Biesen an der Hose auswigsen, daß er zum Generalstab gehörte.
Er war Zeuge und Ankläger in einem und sagte als Fachmann schlicht aus, daß der angeklagte Hauptmann durch seine Befehlsverweigerung, sprich: Feigheit vor dem Feind, den Zusammenbruch eines ganzen Frontabschnittes verschuldet habe, Weder der General noch die Strategie, noch die Bewaffnung, noch der Nachschub hatten versagt, sondern lediglich ein junger Hauptmann namens Ritt.
Kriegsgerichtsrat Dr. Schiele hörte dem Generalstabsoffizier scheinbar aufmerksam zu. Er stützte das Kinn in die linke Hand, mit der rechten kritzelte er auf einem Block Männchen, mechanisch, ohne sich etwas dabei zu denken. Als er sie bewußt betrachtete, sahen sie verzweifelt armen Teufeln ähnlich, wie er sie an die Wand stellen ließ.
»Der Befehl war Ihnen also bekannt?« fragte er.
»Sicher, Herr Kriegsgerichtsrat.«
»Sie wußten, was davon abhing, daß die Stellung gehalten wurde? Sie hatten einen klaren Befehl, die Absetzbewegung zu decken und Ihren Abschnitt bis zum letzten Schuß, bis zum letzten Mann, bis zum letzten – bis zum letzten …«
»Atemzug«, sagte Ritt.
Der Richter in der Wehrmachtsuniform betrachtete den Angeklagten mit seinen großen glänzenden Augen mehr verdrossen als zornig. Er saß breit und groß zwischen den anderen Offizieren. Im Privatleben bevorzugte er Rotwein, bei seinen Urteilen Strenge, was nicht seiner Neigung, sondern den Umständen entsprach. Der Mann, Rechtsanwalt im Zivilleben, war der Meinung, daß es besser sei, als Marionette an einer Schnur zu hängen als seinen Kopf in die Schlinge zu stecken oder gar am Fleischerhaken zu enden, den das System zu dieser Zeit als Hinrichtungsmethode erfunden hatte.
»Sie haben also versagt, Angeklagter?« fragte der Kriegsgerichtsrat. »Es war Ihnen nicht gelungen, Ihre Leute in der Stellung zu halten?«
Er baute diesem sturen Angeklagten eine ärmliche Notbrücke; aber statt sie zu betreten, riß Ritt sie ein.
»Doch, Herr Kriegsgerichtsrat«, sagte er und lächelte fahl.
»Was heißt das?« fragte Dr. Schiele scharf.
»Ich habe meinen Männern ausdrücklich befohlen, die Stellung zu räumen.«
»Entgegen dem Befehl?«
»Jawohl.«
»Können Sie mir erklären, warum?« stieß der Kriegsgerichtsrat zu.
Der angeklagte Hauptmann lächelte melancholisch. Lohnte es sich, auf diese rhetorische Frage eine Antwort zu geben? Hatte es einen Sinn, zu sagen, daß der Ankläger, Zeuge und Sachverständige ein verlogener Idiot war? Hatte er die geringste Chance vor diesem Tribunal? Sollte er also noch, wie man erwartete, Einsicht zeigen, bevor man ihn erschoß? Mußte er noch von dem zügellosen Rückzug sprechen, von den eingekeilten Kolonnen, von flüchtenden Soldaten, die über ihre sterbenden Kameraden hinwegtrampelten, von den zerrissenen Pferdekadavern, den brennenden Verpflegungslagern, den gesprengten Geschützen, von dem Untergang einer Armee mit Mann und Roß und Wagen?
»Nein«, sagte Martin Ritt.
»Sind Sie verrückt?«