Will Berthold

Die wilden Jahre


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Dienstweg schreiben«, sagte der Richter. »Sie werden es in einem privaten Feldpostbrief tun.«

      »Nein«, erwiderte Martin.

      »Warum nicht?« fragte der Kriegsgerichtsrat.

      »Sie kennen ihn nicht …«

      »Ihr Vater ist mir so wurscht wie Sie. Verstehen Sie. Sie bieten mir eine Chance, einmal einen laufenzulassen.«

      »Seit wann so menschlich?«

      »Sie sind ein Idiot, Ritt. Alle, die in Ihrer Lage Helden spielen, sind Idioten.«

      »Und wenn sich diese Idioten nicht an der Front totschießen lassen, dann besorgen Sie das in der Etappe.«

      »Meine Pflicht«, sagte Schiele kalt. »Besser sterben lassen als selbst sterben.«

      »Lassen Sie mich endlich in Ruhe.« Martin hatte die Zigarette vergessen. Er spürte erregte Verbitterung, weil er das Gewissen eines Feldrichters aufhellen sollte, der im Krieg ein Durchhaltefanatiker und im Zivilleben womöglich ein Philanthrop war. Er wollte nicht zum lebenden Alibi eines Rückversicherers werden für den Fall, daß ein Krieg verloren werden sollte, den der Richter bis zum bitteren Ende mit Todesurteilen fütterte.

      »Ganz recht«, sagte Schiele, »der Endsieg ist weit. Ich glaube auch nicht mehr daran. Das hier«, er lächelte süffisant, »die Todeszelle ist einer der wenigen Orte, wo sich in unserem schrumpfenden Großdeutschland zwei Männer noch offen unterhalten können, zumal, wenn einer auf das Geheiß des anderen bald erschossen wird.«

      Seine Eckzähne glänzten. Sie waren aus Gold, dem gleichen Edelmetall, das Schieles braune Auftraggeber aus dem Mund ihrer toten Opfer brechen ließen. Der Führer brauchte Devisen, sackweise. Jeder Sack wog ungefähr sieben Kilo, und je zwei Gramm des Inhalts waren im Durchschnitt ein Leben.

      »Sie halten mich für einen Unmenschen. Ich bin nur ein Praktiker. Von mir verlangt man Todesurteile wie von Ihrem Vater Rüstungszahlen. Er liefert Granaten, ich liefere Menschen. Doch ist da ein Unterschied: Ihr Vater ist um jede Granate froh, die er über das Soll hinaus produzieren kann; ich bin dankbar um jedes Leben unter der Norm. Unter der Norm kann ich nur bleiben in besonderen Fällen. Ein besonderer Fall sind Sie. Es ist Ihr Glück, nicht Ihr Verdienst. Sie waren glücklicher in der Wahl Ihres Vaters als zum Beispiel das arme Schwein, das morgen an Ihrer Stelle erschossen wird. Zehn Mann sind zu erschießen. Anordnung von oben. Tut mir leid. Wer Befehle nicht ausführt, landet«, er sah sich in der Zelle um, »hier.«

      Martin spürte Zorn, Haß, Spott und Resignation.

      »Da stehen Sie nun«, fuhr der Kriegsgerichtsrat fort, »wie Ihr eigenes Denkmal und sehen voller Respekt zu sich hinauf. Vielleicht fallen Sie am Ende doch um. Oder Sie halten es auch durch. Auch solche Narren hatte ich hier schon«, er spuckte das Wort aus, »in meiner feldgrauen Praxis.«

      Dr. Schiele stand auf, stieß mit dem weichen Offiziersstiefel den Holzschemel um, sah an der graugekalkten, schmutzigen Zelle entlang, ging probehalber vier Schritte vor, vier Schritte zurück wie sein Delinquent, sah nach oben zu dem winzigen Ausschnitt der Zelle, die auch tagsüber das Licht bemaß, roch nach Kölnisch Wasser, dachte an das Essen und die Brasil hinterher, Friedensware, rümpfte die Nase, verschränkte die Arme, sah Martin Ritt an und sagte:

      »Und Sie sind stolz auf sich, Sie Armleuchter, auf was? Sie haben sich in diesem Krieg schließlich genauso einen Dachschaden geholt wie andere ein Holzbein.«

      »Vielleicht«, sagte Martin, »vielleicht habe ich aber auch mit meinem Befehl zum Rückzug hundertvierundzwanzig jungen Menschen das Leben gerettet.«

      »Selbst da muß ich Sie noch enttäuschen«, sagte der Richter in der grauen Wehrmachtsuniform. »Ich habe mich nach Ihrer Einheit erkundigt. Die gibt’s nicht mehr. Ist bei Kiew aufgerieben worden.« Er lächelte fahl. »Das haben Sie also erreicht, Ritt, nicht mehr.«

      »Wann ist mein Bataillon aufgerieben worden?« fragte der Häftling.

      »Vor zwei Wochen.«

      »Dann haben meine Leute sechzig Tage länger gelebt.«

      »Aber wie«, sagte Dr. Schiele. Er gab das Gespräch auf, nickte seinem Opfer zu, klopfte an die Zellentür, ließ sich aufsperren.

      Er ging, ohne sich umzudrehen. Ritt hatte nicht auf ihn gesetzt aber, als jetzt das Geräusch seiner Schritte ferner wurde, spürte er eine Hoffnung schwinden.

      Dann griff er unter die Pritsche, suchte und fand die Zigarette. Immerhin war ihm von der Begegnung etwas geblieben.

      Er zündete sie an, nahm einen tiefen, süchtigen, befriedigenden Zug, zog den Rauch fest in die Lunge, hielt ihn ein paar Sekunden auf, ließ dann einen kleinen Teil durch den offenen Mund, den Rest ganz langsam durch die Nase ziehen; sein ganzer Körper kostete wohlig das Nikotin.

      Stiefel wuchteten über den Gang.

      Alles war Ritt gleichgültig, außer dem Gift, nach dem jede Pore, jeder Nerv gierten.

      Er hörte, daß die Tür aufgesperrt wurde, und tat noch einen raschen Zug, nahm mechanisch Haltung an und sah betroffen, daß der Kriegsgerichtsrat zurückgekommen war.

      »Sie können sich also doch noch bücken, Ritt?« sagte der Mann und genoß, wie sich Martins Gesicht mit Scham und Zorn beschlug.

      V

      Wenigstens der Unterleib ist unpolitisch, dachte der US-Captain Felix Lessing, als er in dem Aachener Vorort auf ein zerschossenes Haus zuging, in dem die Frau auf ihn wartete. Er war dreißig, groß und schlank. Er trug ein Gewehr über der Schulter, dessen Lauf auf den Boden zeigte, und er ging, als schwanke er.

      Über leere zerstörte Straßen fegte ein kalter Wind. Die Zivilbevölkerung mußte nachts in ihren Ruinen bleiben. Die alliierten Truppen hatten den Atlantikwall überrannt, Frankreich befreit und Hitlers verzweifelte Ardennenoffensive ins Leere laufen lassen; heute, am 7. März 1945, stießen ihre Voraustruppen gegen den Rhein vor.

      Der Captain blieb stehen und suchte den Eingang. Er holte die Flasche aus der Tasche, nahm tiefe Schlucke, als müsse er sich Mut antrinken. Eigentlich wollte er umkehren, aber er sehnte sich nach einer langen Nacht mit einem weißen Körper in einem weichen Bett. Verdammt, dachte Felix Lessing, schließlich bin ich Soldat – ich brauche eine Frau, und wenn es keine andere gibt …

      Er fand den Eingang und klingelte.

      Die junge Frau öffnete sofort; sie mußte hinter der Tür auf ihn gewartet haben.

      »Da bin ich«, sagte der Captain.

      Sie legte den Finger auf den Mund, ihre Blicke glitten zu den Nachbarwohnungen hin, als sie den Besucher in die Diele zog. Unschlüssig stand er da und sah sich um. Sie nahm ihm den Trenchcoat ab. Sie hatte sich für ihn zurechtgemacht, aber Lessing übersah es. Er wollte ihr Schlafzimmer so kurz wie nötig und so sachlich wie möglich hinter sich bringen.

      »Hier«, sagte die junge Frau und wies auf die Tür zu ihrem Zimmer.

      »Hübsch«, erwiderte er, ohne sich umzuschauen.

      »Die Nachbarn?« fragte er.

      »Nein – das Kind.«

      »Ach so …« Er holte die Flasche aus der Tasche. Während er sie der Frau anbot, die ablehnte, sah er das Bild des Feldgrauen an der Wand.

      »Ihr Mann?«

      Sie nickte.

      »Gefallen?«

      »Nein«, antwortete sie, »im Osten …« Ihre Stimme schien zu besagen, daß das keinen Unterschied mache.

      »Ach so«, erwiderte Felix und trank wieder aus der Flasche.

      »Ich hole Ihnen ein Glas«, sagte die junge Frau. Sie betrachtete ihn von der Seite, stellte wie schon heute morgen auf der Straße fest, daß er ein hübsches Gesicht mit einer breiten, ausladenden Stirn hatte, das hart und glatt wirkte wie ein Stein in der Brandung.

      »Wieso