entgegnet Cruyff: „Es heißt immer, unsere Abwehr sei schlecht. Aber wenn wir hinten ständig den Ball hin- und herspielen und die gegnerischen Stürmer dem Ball hinterherrennen müssen, werden sie müde. Das sieht so einfach aus, wenn die Spieler den Ball querspielen. Aber jeder Fehler kann ein großer Fehler sein. Und deshalb ist absolute Konzentration nötig. Mein größter Feind ist mangelnde Konzentration.“
Der Trainer verteilt die Rückennummern nach den Positionen, die die Spieler einnehmen sollen. Dies erleichtert es ihm, während des Spiels Anweisungen zu erteilen. Der Torwart, der bei Cruyff wie ein Libero agieren muss, erhält die Nummer 1, der rechte Außenverteidiger die 2, der Innenverteidiger die 3, der linke Außenverteidiger die 5. Im zentralen Mittelfeld trägt der defensive Spieler die 4 und der offensive die 6. Die Mittelfeld-Außen spielen rechts mit der 8 und links mit der 10, die Außenstürmer rechts mit der 7 und links mit der 11, der Mittelstürmer mit der 9.
Von besonderem Interesse sind die 3 und die 4. Die 3 spielt ohne konkrete Zuordnung (die Außenverteidiger lässt Cruyff manndecken) und muss in Cruyffs 3-4-3-System über große taktische und technische Qualitäten verfügen. Die 4 muss ein Schnelldenker sein, einfache Lösungen finden und über ein präzises Passspiel verfügen. Das Trikot mit der Rückennummer 3 wird der Niederländer Ronald Koeman überstreifen, das mit der Nummer 4 Pep Guardiola.
Cruyff lässt seine Spieler kaum Flanken schlagen. Die Außenpositionen bekleiden keine Dauerläufer, sondern technisch beschlagene Spieler wie etwa der Bulgare Hristo Stoichkov. Statt den Ball hoch in den Strafraum zu dreschen, sollen sie mit Dribblings oder Doppelpässen diagonal vorstoßen. Auch Standards interessieren den Niederländer nicht. Bei Ballbesitz ist der Zweikampf weitgehend zu vermeiden und der Gegner zu umspielen. Cruyff predigt einen Fußball, der den im europäischen Vergleich kleinen Spaniern auf den Leib geschneidert ist, denn in seinem System finden auch die schmächtigen und langsameren Spieler ihren Platz.
Als Spieler verfügte Cruyff über einen „Raketenantritt“, also jenen Antritt auf den ersten Metern, der beim Fußball enorm hilfreich ist. Zugleich aber war es Cruyff, der das Spiel häufig mit dem Ball statt mit den Beinen schneller machte, indem er im richtigen Moment schnelle und präzise Pässe spielte. „Der Ball wird nicht müde“, pflegt Cruyff zu sagen. Und schneller als die Spieler ist die Kugel auch. Dies bedeutet: Auch langsame Spieler können schnellen Fußball spielen und ihre physischen Schwächen kaschieren – sofern sie über gute Technik und hohe Spielintelligenz einschließlich Handlungsschnelligkeit verfügen. Technik und Spielintelligenz sind die zentralen Bausteine des „Cruyffismo“, wie man die Philosophie des Barça-Trainers später in Spanien tauft.
Für den Journalisten Ricard Torquemada, der den FC Barcelona für den Sender Catalunya Radio seit Jahren begleitet, ist aber „das Wichtigste, das der Holländer Barcelonas Spielphilosophie eingebrannt hat, sein fester Glaube, dass die Spieler nur dann wirklich gut sein können, wenn sie verstehen und verinnerlichen, was sie tun. Und das zu jeder Zeit. Er wollte, dass die Spieler selbst spüren, welchen Sinn eine gewisse Aktion in einem bestimmten Moment hat. Es war ihm wichtig, dass die Profis selbst Fehler analysieren konnten.“
So zog Cruyff fast automatisch nicht nur technisch und taktisch versierte Spieler heran, sondern auch die nächste Generation Trainer. Der Cruyff’sche Spieler musste fast zwangsläufig so denken wie ein Trainer.
Die Suche nach dem Pivote
In La Masia macht Guardiola zunächst weniger durch sein Fußballspiel auf sich aufmerksam als durch sein ständiges Nachdenken und Reden über Fußball. Jedes Training wird von ihm analysiert, manchmal können es seine jungen Mitspieler nicht mehr ertragen. Guardiola ist nicht besser als seine Mitschüler, aber niemand ist so besessen vom Fußball wie er. Bald zeigt sich: Er versteht das Spiel besser als mancher seiner Ausbilder und glänzt vor allem bei Taktikeinheiten. Jaime Oliver, ein ehemaliger Leiter der La Masia: „Vor allem Pep fragte nach. ‚Wäre es nicht besser, wenn wir dort Überzahl schaffen?‘ Analytisch war er eine Maschine. Und abends hat er das Gelernte mit den Teamkollegen noch im Zimmer wiederholt, hat erklärt und insistiert.“
Guardiolas Stammposition ist zunächst das rechte Mittelfeld, wo er aber nur seine Schwächen offenbaren kann, nicht seine Stärken. Aufgrund seiner körperlichen Defizite bleibt Guardiola bis zu seinem 18. Lebensjahr im Juvenil-A-Team und kommt erst anschließend in Barças B-Team. Einmal darf er nun in einem Freundschaftsspiel für die 1. Mannschaft auflaufen. Im Mai 1989 ist Pep in einem Benefizspiel gegen ein Amateurteam in Banyoles dabei. „Du hast langsamer gespielt als meine Großmutter“, raunzt der Chefcoach den Nachwuchsspieler anschließend an.
Einer von Guardiolas Mitspielern im B-Team ist der Niederländer Danny Muller, Sohn der Ajax-Legende Bennie Muller und Verlobter der Cruyff-Tochter Chantal. Anders als Guardiola wird er den Sprung in Barças 1. Mannschaft nicht schaffen und nach der Saison 1988/89 in die Niederlande zurückkehren. Muller ist Guardiolas erster niederländischer Teamkollege und erzählt später: „Pep ist ruhig. Reserviert. Ich erinnere mich, dass er in der Jugend schlank und groß war. Ein schlaksiger Kerl. Er hatte ein Babygesicht.“
Cruyff kreiert beim FC Barcelona eine Position, die man Pivote nennt und die heute dem modernen „Sechser“ entspricht. Anstelle des klassischen Zehners soll ein defensiver Mittelfeldspieler das Spiel lenken. Der Spielmacher wird so nach hinten gezogen und ist auch nicht mehr ausschließlich zentral postiert. Er wirkt aus der Tiefe des Raumes, wird zur Drehachse des Spiels, baut mal von links, mal von rechts oder aus der Mitte auf. Cruyff verlangt auch von den Nachwuchsteams, dieses System zu spielen.
Cruyffs Pivote muss nicht schnell mit den Beinen und kräftig sein. Für den Trainer zählen auf dieser Position vor allem Ballsicherheit und Spielintelligenz sowie Handlungsschnelligkeit. Der Erste, der diesen Anforderungen zu genügen scheint, ist Luis Milla. Als der FC Barcelona in der Saison 1988/89 den Europapokal der Pokalsieger gewinnt, ist Milla Stammkraft. Doch im Sommer 1990 zieht es den 24-Jährigen zu Real Madrid. (Nach dem Ende seiner Karriere trainiert Milla verschiedene Auswahlmannschaften Spaniens und wird 2011 mit der U21 Europameister.) Ein Teil des Vorstands um Vizepräsident Joan Gaspart ist strikt dagegen, dass man einen kommenden Starspieler an den größten Konkurrenten verkauft. Aber Cruyff meint, dass man Reisende nicht aufhalten darf. Für die Katalanen soll nur spielen, wer sich voll und ganz mit der Sache identifiziert.
Dünn und intelligent
Cruyff interessiert sich für Liverpools Dänen Jan Molby, zumal nachdem sich Ronald Koeman verletzt hat, aber entsprechende Bemühungen verlaufen im Sande. Barça-Boss Josep Lluis Núñez ist der Spieler zu teuer. Die Mannschaft will ohnehin keinen weiteren Ausländer. Der spanische Nationalstürmer Julio Salinas: „Wir sind 22 Spieler, viele von uns sind Nationalspieler. Man würde denken, wir wären ohne Ronald nichts.“ Auf der Suche nach einem einheimischen Ersatz beobachtet Cruyff daher im Sommer 1990 Guardiola bei einem Spiel des B-Teams von Barça.
Als Cruyff auf dem Platz erscheint, drückt Guardiola jedoch nur die Bank und wird nicht einmal zum Aufwärmen geschickt. Cruyff: „Die Leute erzählten mir: ‚Er ist einer der Besten.‘ So besuchte ich die Spiele des B-Teams, aber er spielte dort nicht. Ich sagte den Trainern: ‚Ihr habt mir gesagt, er ist einer der Besten.‘ Sie antworteten: ‚Ja, aber er ist körperlich zu schwach. Wir werden mit ihm verlieren.‘ Ich sagte ihnen: ‚Wenn wir verlieren, dann verlieren wir halt. Wir müssen Spieler entwickeln.‘“
Danny Muller über Guardiolas „Entdeckung“: „Johan und Tony Bruins Slot (Cruyffs ebenfalls aus Amsterdam stammender Co-Trainer, Anm. d. A.) suchten einen defensiven Spieler. Einen Innenverteidiger oder eine Nummer 4. Pep spielte einfach. Nur einen Ballkontakt. Ganz eng. Genau das, was Johan benötigte. Carles Rexach war zu dieser Zeit Nachwuchscoach bei Barça und wollte Guardiola nicht gehen lassen. Er hat ihn niemals gedrängt. Ich denke, dass alle glaubten, dass Pep zu verletzlich sei. (…) Andere Spieler waren auffälliger. Dribblings oder lange Pässe mit großartigen Toren.“
Carles Rexach ist wie sein Schützling Katalane. Sein Vater war ein Aktivist der politischen Linken Kataloniens und kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner. Rexach junior: „Barça war seine