Will Hunt

Im Untergrund


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      Während der Weltausstellung 1867 öffnete die Stadt die Kanalisation für offizielle Touren, und Besucher aus ganz Europa drängten heran. Würdenträger und Royals, Diplomaten und Abgesandte stiegen eine eiserne Wendeltreppe nahe der Place de la Concorde hinab und setzten sich in einen Kahn, der ansonsten von Arbeitern zur Reinigung der Röhren benutzt wurde. »Eine Barke mit gepolsterten Sitzen, an den Ecken von Öllampen erleuchtet«, erinnerte sich ein Besucher. Damen mit eleganten Kopfbedeckungen und hochhackigen Schuhen, Spitzenschirme in der Hand, glitten durch die Ausscheidungen der Stadt. Die Kanalarbeiter spielten Gondoliere und manövrierten das Boot durch den Abwasserkanal. In einem Reiseführer der damaligen Zeit war zu lesen: »Wie allgemein bekannt, will kein Besucher, der etwas auf sich hält, aus der Stadt abreisen, ohne diese Unternehmung gemacht zu haben.«

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      In der Zwischenzeit genoss Nadar seine Rolle als Hermes von Paris, als Pariser Psychopomp und Vermittler zwischen allem Ober- und Unterirdischen. In den Jahren nach der Veröffentlichung seiner Fotografien veranstaltete er private Führungen durch die Kanalisation und die Katakomben und ging kichernden Grüppchen voran ins Dunkel. In einem begleitenden Essay zu seinen Bildern schrieb er: »Madame, gestatten Sie mir, Ihr Führer zu sein. Ich bitte Sie, meinen Arm zu nehmen – suivons le monde

      Vor dem letzten großen Stück unseres Trecks kampierten wir am Ufer des unterirdischen Canal Saint-Martin: Es war ein breiter, gewölbter Tunnel, in dem grünes Wasser friedlich plätscherte; von sehr weit weg drang schwach das Morgenlicht ein. Es war gegen acht Uhr morgens – oben würden die Brasserien bald aufmachen und die Kellner das Besteck auf den Tischen verteilen. Wir hängten unsere Hängematten am Geländer entlang des Kanals auf, ein bisschen wie Bergsteiger, die im nackten Fels biwakieren. Steve meldete sich freiwillig, um aufzubleiben und Wache zu halten.

      Ich lag in der Hängematte und dachte an Nadars Fotos. Die Sage von Phaeton fiel mir ein, in der er als junger Mann seinen Vater, den Sonnengott Helios, darum bittet, einmal mit dem Sonnenwagen über den Himmel fahren zu dürfen. Das Vierergespann rast los, und der Jüngling verliert schon bald die Kontrolle über die Pferde: Das Gefährt stürzt der Erde entgegen, die Hitze lässt die Flüsse austrocknen und Wüsten entstehen, auf Bergkuppen bricht Feuer aus, und schließlich fliegt Phaeton so niedrig, dass der Sonnenwagen ein Loch in die Erdoberfläche brennt. Licht strömt in die Unterwelt. Die Menschen drängen an den Rand des Lochs, wo sie zum ersten Mal direkt bis ins Reich des Hades blicken können, vom alles verbrennenden Flammenmeer und dem düsteren Asphodeliengrund bis zum tiefsten Schwarz des Tartaros. Sie sehen sogar König Hades und Königin Persephone auf dem Thron sitzen und zu ihnen hochblinzeln. Die Menschen sind zu Tode erschreckt über diese infernalische Landschaft, die sie immer gefürchtet haben; und trotzdem weichen sie nicht vom Rand des Lochs zurück. Sie spähen weiter hinab in die Düsternis und können den Blick nicht abwenden.

      Wir hatten vielleicht zweieinhalb Stunden geschlafen, als Steve ein Ausflugsboot bemerkte, das den Kanal heruntergeglitten kam. Steve schüttelte uns schnell wach, bevor der Kapitän uns entdecken und die Polizei rufen konnte, und wir verkrümelten uns wieder in der Dunkelheit.

      Der letzte Abschnitt unserer Reise war der Abwasserkanal unter der Avenue Jean-Jaurès – ein langer, viereckiger, gesichtsloser Korridor, durch dessen Mitte ein Fäkalienstrom von der Breite einer einspurigen Straße floss. Steve zufolge gingen wir am Hauptkanal entlang: Das Abwasser von praktisch ganz Paris floss zu unseren Füßen.

      Wir waren jetzt seit achtunddreißig Stunden unterwegs und spürten die Nähe zu unserem Ziel. Eigentlich hätten wir triumphierend, erleichtert oder stolz sein müssen, aber wir schlurften nur noch mit rot geränderten Augen dahin, abgespannt und ein wenig benommen, vielleicht von dem unterirdischen Miasma, das wir auf den vielen Kilometern eingeatmet hatten.

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      »Und, weiter nach Nordfrankreich, was meint ihr?«, sagte Steve.

      Ich merkte, wie mir auf dem glitschigen Steg die Augen zufielen: Ich hielt mich so nah wie möglich an der Wand und konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alle paar Hundert Meter kamen wir an einem kleinen Zuleitungsrohr mit einem Schild vorbei, auf dem der Name der darüberliegenden Straße stand. Moe ging mit der Karte voran, rief laut die Straßennamen und machte einen Countdown für die letzten Meter bis zu unserem Ziel.

      »Fünfhundert Meter!«

      Mit jedem Schritt nahm die Strömung des Kanals zu, das Abwasser schwappte über den Rand des Stegs, schließlich schlug es über unseren Schuhen zusammen – der Untergrund spuckte uns aus.

      Wir kamen direkt jenseits der Stadtgrenze unter einer hellen Mittagssonne an die Oberfläche. Alle sechs stiegen wir die Leiter hoch und durch ein Gullyloch vor einem türkischen Restaurant. Unsere Gesichter waren verschmiert, unsere Haare mit Schlamm und Schleim verklebt, unsere Kleider nass und stinkend. Als wir die Köpfe herausstreckten, sprangen die Fußgänger auf dem Bürgersteig zurück, ein Kellner ließ das Besteck fallen. Eine ältere Frau im rosa Pullover lehnte sich auf ihrem Rollator vor und starrte zu uns herunter, Augen und Mund weit aufgerissen. Einen kurzen Augenblick – bevor Steve den Gullydeckel wieder zuschob und wir in den nächsten Park stolperten, eine Flasche Sekt köpften und feierten – beugten sich alle auf der Straße vor und wollten einen Blick in das offene Loch nach unten werfen.

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