Zuschauer aus dem Stein gehauen, es gab eine Leinwand, einen Projektor und mindestens drei Telefonleitungen. Neben dem Vorführraum befanden sich eine Bar, eine Lounge, eine Werkstatt und ein kleines Esszimmer. Als die Polizei drei Tage später zurückkehrte, um das Ganze näher zu untersuchen, waren alle Installationen verschwunden, und der Raum lag leer da – mit Ausnahme einer Nachricht: »Versucht nicht, uns zu finden.«
Auch wenn die Cataphiles nichts davon ahnten – unsere Unterquerung der Stadt wäre ohne sie undenkbar gewesen. Unsere Karte war ursprünglich von den Stammesältesten angefertigt und mit dem Wissen mehrerer Generationen vervollständigt worden: Es wurde angezeigt, welche Gänge niedrig waren und auf dem Bauch durchquert werden mussten, welche unter Wasser standen und welche unsichtbare Stolperfallen hatten, die vorsichtig umgangen werden mussten. (Damit das Tunnelsystem nicht zu einfach zu finden war, hatten die Älteren die Eingänge allerdings nicht auf der Karte verzeichnet.) Im Lauf der Jahre schmuggelten die Cataphiles Bohrmaschinen und Presslufthammer in den Untergrund, um kleine Durchgänge in den Wänden zu schaffen: sogenannte chatières – Katzenklappen –, die sich auf unserem Treck als lebensnotwendige Übergänge erweisen sollten.
Benoit, der nur ein kleines Täschchen mit einer Wasserflasche und einer zweiten Lampe dabeihatte, warf einen fragenden Blick auf unsere dicken Rucksäcke. »Wie lang wollt ihr unten bleiben?«, fragte er.
»Wir durchqueren die Stadt«, antwortete Steve. »Bis an die nördliche Stadtgrenze.«
Benoit starrte Steve einen Augenblick lang an, dann lachte er, bevor er sich umdrehte und im Dunkeln verschwand; vermutlich hielt er es für einen Witz.
Wir wanden, bogen und reckten unsere Körper, als absolvierten wir ein ausgedehntes unterirdisches Stretching. Wir zwängten uns durch lange Schläuche und fielen auf der anderen Seite mit verknoteten Gliedmaßen wieder heraus wie ein neugeborenes Fohlen. Wir ließen uns hinab in Hohlräume von der Größe eines Ballsaals, in denen unsere Stimmen von der Decke hallten. Von den durch die Luftfeuchtigkeit glitschigen Wänden stieg Dampf auf: ein Gefühl, als würde man durch verschlungene Hirnwindungen kriechen. Mehr als zwanzig Meter blickten wir in Kanalschächten nach oben, doch draußen war es zu dunkel, um den Himmel zu sehen. Braune Wurzeln hingen wie kleine, runzlige Kristalllüster von den Decken. Die Hauptgänge waren mit den typischen Pariser Straßenschildern aus blauem Emaille gekennzeichnet, entsprechend der Straßennamen darüber. Das unterirdische Palimpsest wird immer wieder neu überschrieben; Graffiti aus heutigen Sprühdosen überdeckten die Rußflecken der Steinbrucharbeiter aus dem siebzehnten Jahrhundert, unter denen sich wiederum Fossilien prähistorischer, im Kalkstein eingebetteter Meereslebewesen verbergen. Alle paar Minuten kamen wir an seitlich abzweigenden Galerien vorbei, eine kleine Erinnerung daran, wie labyrinthisch unser Weg noch werden sollte.
Die Neulinge Chris, Liz und Jazz bewegten sich wie in einem Traum. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das echt sein soll«, flüsterte Jazz.
Irgendwann leuchtete ich mit meiner Lampe nach oben und entdeckte einen großen schwarzen Spalt in der Decke. Im achtzehnten Jahrhundert waren Stollen eingestürzt: Ganze Häuser, Pferdekutschen und Passanten wurden von der Erde verschluckt, und die Steinbrucharbeiter unter ihnen wurden vom Erdreich verschüttet. Aber heutzutage waren die Tunnel gut gesichert, und wir mussten nicht fürchten, lebendig begraben zu werden – die Katakomben waren der ungefährlichste Abschnitt unserer Reise.
Nadar verfolgte schon lange vor seinen Ausflügen in den Pariser Untergrund das Ziel, die Welt aus ungewohnter Perspektive zu fotografieren. Zuerst tat er das aus der Luft. Zusammen mit seinem Freund Jules Verne gründete Nadar die Société d’encouragement de la navigation aérienne au moyen d’appareils plus lourd que l’air (Gesellschaft zur Förderung der Luftfahrt mit Apparaten, die schwerer sind als Luft) und veranstaltete überall in Europa spektakuläre Heißluftballonfahrten. 1858 bestieg er einen Ballon, flog über Paris und nahm aus der Höhe von achtundsiebzig Metern das erste Luftbild der Welt auf, eine leicht unscharfe, silbrig graue Aufnahme der Stadt. »Wir erlebten die Welt aus der Vogelperspektive, wie sie bisher vom inneren Auge nur unvollkommen wahrgenommen worden war«, schrieb er über seine Aufnahmen aus dem Heißluftballon. »Jetzt besitzen wir nichts weniger als das Abbild der Natur selbst, festgehalten auf der Nassplatte.«
Für sein nächstes Kunststück wollte Nadar die Stadt von unten fotografieren. Es begann mit der Bogenlampe, die er in seinem Atelier zusammengebaut hatte. Es war eine lichtstarke, aber unhandliche Konstruktion: Mithilfe von fünfzig Bunsenelementen entzündete ein elektrischer Funken zwei Kohlenstoffstäbe, die ein weißes Licht aufflammen ließen. Durch diese Lampe wurde es zum ersten Mal möglich, Bilder ohne Sonnenlicht aufzunehmen, ein im jungen Medium der Fotografie noch unerprobtes Konzept. Abends entzündete Nadar die Lampe auf dem Trottoir vor seinem Atelier und zog mit dem Lichtschein die Menschenmassen an. Nadar erklärte, er werde seine Lichtapparatur dazu benutzen, um Bilder mit seiner Kamera einzufangen, die sich allen anderen Fotografen bisher entzogen hatten. »Die unterirdische Welt«, schrieb er, »bot uns ein unendliches Betätigungsfeld, das nicht weniger faszinierend war als das an der Oberfläche. Wir stiegen hinab, um die Geheimnisse der tiefsten, geheimsten Kavernen zu lüften.« In den Beinhäusern – genannt Les Catacombes, in Anlehnung an die berühmten Katakomben in Rom – machte Nadar seine ersten unterirdischen Aufnahmen.
Als wir ungefähr sieben Stunden gegangen waren, führte Steve uns durch eine lange Passage in eine Kammer mit gemauerten Wänden. Wir nahmen unsere Rucksäcke ab und setzten uns auf den Boden. Die Stimmung war bestens, trotz nasser Füße und sensationell verschlammter Klamotten. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis wir die trockenen, kupferfarbenen Gegenstände identifizierten, die rund um uns auf dem Boden lagen.
Jazz nahm einen in die Hand und musterte ihn. »Das ist ein Rippenknochen.« Sie schüttelte sich, dass die Dreadlocks flogen, und ließ den Knochen fallen.
Als wir nach unten guckten, wurde uns klar, dass wir auf menschlichen Überresten herumgelaufen waren – einem Schienbein, einem Oberschenkelknochen, einer Schädeldecke, alle trocken, glatt und pergamentfarben. Wir spähten um die Ecke und sahen, dass wir am Fuß eines riesigen Turms standen: Tausende von Menschenknochen, die von oben auf eine Rutsche gekippt worden waren und sich in einer chaotischen Kaskade nach unten ergossen hatten. Wir befanden uns inmitten eines Ossuariums unterhalb des Cimetière du Montparnasse.
Ende des achtzehnten Jahrhunderts quoll Paris über vor Leichnamen. Die Mauern des Cimetière des Saints-Innocents, des größten Friedhofs der Stadt, gaben nach, und die Leichen ergossen sich in die Keller der benachbarten Häuser. Um den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, beschloss die Stadt, ihre Toten in die unterirdischen Steinbrüche auszulagern, die im Lauf der Jahrhunderte immer größer geworden waren. Als letzte Ruhestätte wurde ein zwölftausend Quadratmeter großes Areal mit leeren Stollen im Süden der Stadt ausgewählt, passenderweise unter einer Straße namens Tombe-Issoire. Nachdem die unterirdischen Galerien von einem Priester-Trio offiziell geweiht worden waren, wurden die Skelette auf schwarz verhängten Holzkarren durch die Stadt transportiert und dann in Schächte gekippt, die man in den Straßen geöffnet hatte. Insgesamt wurden die sterblichen Überreste von sechs Millionen Menschen in die unterirdischen Steinbrüche umgebettet. Arbeiter wurden mit der kaum zu bewältigenden Aufgabe in die Katakomben geschickt, die Knochen zu ordnen und zu ansehnlichen Arrangements aufzuschichten.
Im Dezember 1861 stieg Nadar mit einem Tross von Gehilfen und zwei mit fotografischer Ausrüstung beladenen Loren hinab in die knochengefüllten Korridore. Die unterirdischen Galerien waren 1810 kurzzeitig für Besucher geöffnet, aber wegen Vandalismus schnell wieder geschlossen worden. Als Nadar eintraf, waren sie seit Jahrzehnten für niemanden mehr zugänglich gewesen. In den »Maulwurfshügeln«, wie Nadar sie nannte, traf er auf eine Belegschaft von Arbeitern, die immer noch unter der Erde mit der Ordnung der Skelette beschäftigt waren.
Damals war es selbst unter den kontrollierten Bedingungen eines Fotoateliers schwierig, eine fotografische Aufnahme zu machen; unter der Erde in den stockdunklen Stollen war es praktisch unmöglich. Der Prozess war unendlich zeitaufwendig. Die Kollodium-Emulsion wurde im Dunkeln verschüttet, die Bogenlampe blieb in den engen Durchgängen stecken,