Als wir unter dem Fluss hindurchgingen, stellte ich mir einen Querschnitt der Stadt vor, auf dem alle Ebenen übereinander zu sehen waren. Über uns ragte die mächtige Silhouette von Notre-Dame auf, dann kamen die Brücken und der Fluss. Tief unter uns verliefen die Röhren der Metro, in denen es bald schon wieder von Menschen auf dem Weg zur Arbeit wimmeln würde. Wir, sechs winzige, durchs Dunkel wandernde Lichtkegel, befanden uns in der mittleren Ebene dazwischen.
Vor Nadar waren die dunklen, verschlungenen Abwasserkanäle eine Quelle unendlichen Grauens für die Pariser Bevölkerung gewesen. In Victor Hugos Die Elenden, dem Roman, der in den zwanzig Jahren vor der Veröffentlichung von Nadars Bildern entstand, versinnbildlicht die Kanalisation den Albtraum des Städters schlechthin. Victor Hugo schrieb: »Der Darm des Leviathan« ist »verschlungen, zerklüftet, das Pflaster aufgerissen, ausgehöhlt, von Schlammlöchern unterbrochen, hin und her geworfen von bizarren Krümmungen, auf- und absteigend ohne Logik, stinkend, wild, grausam, in Dunkelheit getaucht, mit Narben auf den Quadersteinen und Hiebwunden an den Mauern, entsetzlich.«
In den 1850er-Jahren wurde die Kanalisation unter der Leitung von Georges-Eugène Haussmann, dem berühmten Stadtplaner von Napoleon III., vollständig saniert. Er ließ die Straßen aufreißen und fünfhundertsechzig Kilometer neue Abwasserrohre verlegen. Die Rohrstücke wurden mit einem Gefälle von drei Zentimetern pro Meter verlegt – eine allmähliche Steigung, die zu Fuß gut zu bewältigen, aber steil genug war, dass die Abwässer ständig im Fluss blieben. In ausgiebigen Testreihen wurde festgestellt, dass ein Tierkadaver im Laufe von achtzehn Tagen durch die Stadt gespült wurde, Konfetti schafften dieselbe Strecke in sechs Stunden. Doch das Grauen der Öffentlichkeit ließ sich auch durch diese Modernisierungsmaßnahmen nicht vertreiben. Außer den Kanalisationsarbeitern – den égoutiers –, die jeden Tag den Dreck aus den Röhren putzten, betrat niemand die Abwasserkanäle freiwillig.
Wir waren gerade einmal neunzig Sekunden in der Kanalisation, da kam schon vorn der Warnruf von Steve: »Ratte!«
Grau und so groß wie ein Kaninchen huschte das Tier durch den Abwasserbach zu unseren Füßen. Wir sprangen aus dem Wasser seitlich hoch, während die Ratte mit hin- und herzuckendem Schwanz zwischen uns hindurchlief und ein v-förmiges Kielwasser hinter sich herzog.
Unsere Route in nördlicher Richtung würde uns durch den Abwasserkanal unterhalb des Boulevard de Sébastopol führen, einen großen, runden, aus Ziegeln gemauerten Kanal, durch den auch zwei dicke Wasserrohre liefen – eins für Trinkwasser, das andere für nicht trinkbares Frischwasser. Alle kleineren Zuleitungen entwässerten in diesen Kanal. In der Mitte war eine ein Meter dreißig breite Vertiefung, cunette genannt – dort floss im dampfenden Wasser alles, was irgendwie an der Oberfläche nicht mehr gewünscht war. Innerhalb einer Minute sichteten wir eine Spritze, einen toten Vogel, ein durchweichtes Metro-Ticket, eine zerstückelte Kreditkarte, ein Weinetikett, ein Kondom, einen Kaffeefilter, jede Menge Klopapier sowie schwimmende Kackhaufen. »Kanalisationsfrisch«, sagte Moe – Urbexer-Slang für »menschliche Exkremente«.
Wir bereiteten uns gerade aufs Weitergehen vor – Liz spritzte allen Desinfektionsmittel auf die Hände, Moe schaltete das Gaswarngerät ein –, da meldete sich Steve.
Er hatte eine SMS von Ian bekommen, unserem Wetterfrosch.
REGEN ANGEKÜNDIGT, EVTL GEWITTER. KÖNNTE NASS WERDEN
Steve machte die Runde und sah jedem von uns ins Gesicht, aber keiner zögerte. Wir waren seit einunddreißig Stunden unterwegs: Wir waren zu weit gekommen, um jetzt noch aufzugeben.
»Wir müssen einfach die Augen offen halten«, sagte Steve. Solange wir den Wasserspiegel in der cunette und das Wasser aus den Zuleitungen im Blick hätten, würde uns nichts passieren, sagte er.
Steve hatte wahrscheinlich mehr Ahnung von Kanalisationsschächten als sonst jemand auf der Welt, was allerdings nicht immer beruhigend, sondern auch nervenzerfetzend war, weil er uns haarklein schildern konnte, was im Fall eines Regenschauers mit uns passieren würde. Mit dem Finger ritzte er eine kleine Grafik an die schleimige Wand der Kanalisation, damit wir uns den exponentiellen Anstieg des Wassers vorstellen konnten. »Ich war schon in der Kanalisation von New York, London und Moskau«, sagte er. »Aber nirgendwo ist die Strömung so kräftig wie in Paris. Erst geht einem die Suppe bis über die Knöchel, dann an die Knie, und bevor man merkt, was los ist, steht’s einem schon bis zur Taille. In dem Augenblick, in dem wir sehen, dass der Wasserspiegel steigt, rasen wir sofort los zur nächsten Leiter.«
Keiner sprach, während wir durch den Abwasserkanal gingen. Ich setzte sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen: Der Steg war glitschig, und meine Schuhe hatten wenig Profil. Die Luft war dick wie im Urwald, überall um uns gurgelte, rülpste und gluckerte es – so klang Paris, wenn es verdaute. Der Gestank war bei Weitem nicht so schlimm, wie man sich das vorstellen würde – es roch wie ein Kühlschrank, der mal geputzt werden müsste –, nistete sich aber trotzdem in jeder Faser ein. An den dunklen Kreuzungspunkten herrschte ein labyrinthisches Gewirr schleimiger Röhren und Ventile, wie es Piranesi nicht besser hätte darstellen können. Als ich unter einem Rohrgewirr sicher fünf Meter über mir hindurchging, sah ich dort oben zerfetztes Klopapier baumeln – Beweis, dass in jüngster Zeit eine Flutwelle durch genau diesen Kanal gerauscht war.
Irgendwann donnerte ein Wasserfall aus einer Zuleitung und hallte schockierend laut durch den Kanal. Wir erstarrten mit aufgerissenen Augen und machten uns bereit, zur nächsten Leiter zu rennen.
»Nichts Bedenkliches«, sagte Steve. Nur ein Frühaufsteher, der in einer der Wohnungen über uns die Toilettenspülung betätigt hatte. »Die Geräusche werden hier unten ziemlich verstärkt«, meinte er. »Da klingt das kleinste Tröpfeln wie die Niagarafälle.«
Kurz nach seinen Besuchen in den Katakomben begann Nadar mit der Erforschung der Kanalisation. Mehrere Wochen lang war er im Verdauungstrakt der Stadt unterwegs, wobei seine Assistenten ihm die Ausrüstung über die Stege schleppen mussten. Im Vergleich zu den Katakomben stellten die Abwasserkanäle eine weit größere Herausforderung dar. Hier war er allen von der Erdoberfläche stammenden Widrigkeiten ausgesetzt, jedem Regenschauer und jeder Toilettenspülung, was es wesentlich schwieriger machte, die ungestörten achtzehn Minuten zu finden, die für die Aufnahme notwendig waren. Jedes Mal, wenn Nadar auf den Auslöser drückte, betete die gesamte Mannschaft, dass nichts dazwischenkommen würde. »In dem Augenblick, in dem alle Vorbereitungen getroffen und alle Hindernisse beiseitegeräumt worden waren«, schrieb Nadar später, »dem Augenblick, in dem die entscheidenden Handgriffe stattfinden sollten, legte sich urplötzlich, in den letzten Sekunden der Belichtung, ein aus dem Abwasser aufsteigender Nebelschleier auf die Platte – welche Verwünschungen wurden da laut gegen la belle dame oder le bon monsieur über uns, die unwissentlich gerade diesen Moment gewählt hatten, um ihr Badewasser abzulassen.«
Nadars Fotos aus der Kanalisation verliehen den düsteren Röhren einen eher romantischen Schimmer. Auf einigen war wieder die bärtige Holzpuppe zu sehen, jetzt im Overall des égoutier (Kanalarbeiters) in verschiedenen Arbeitshaltungen. Andere Bilder konzentrierten sich auf abstrakte geometrische Muster: ein Rohr, das sich in zwei Kanäle teilt, in geisterhafter Bewegungsunschärfe fließendes Abwasser. Wegen des vielen Dampfs in den Kanälen ist auf allen Bildern ein leichter Dunst zu sehen, als seien sie durch einen Schleier aufgenommen worden.
Journalisten und Kritiker waren auch diesmal wieder außer sich vor Begeisterung. In einer Zeitung wurde Nadar als Pionier porträtiert, der den Tücken und Gefahren des lang verschmähten Untergrunds die Stirn bot und diese Fotografien »halb erstickt von den giftigen Dämpfen der elektrischen Batterie in den bedrückenden Gewölben« aufnahm. Der Philosoph Walter Benjamin schrieb: »Damit werden dem Objektiv zum ersten Mal Entdeckungen zugemutet.«
Mit einem Mal rissen Menschen in ganz Paris die Gullydeckel auf. Spät in der Nacht kletterten sie die Abflussschächte hinab, zündeten eine Kerze an und gingen flanieren. 1865 beschrieb La Vie Parisienne einen mitternächtlichen Spaziergang in der Kanalisation als neue promenade. »Reizende Begegnungen sind dort möglich. Mir begegnete die hübsche Comtesse de T______, praktisch allein, und ich sah auch die Marquise D____ und plauderte mit Mlle N______, bekannt aus dem Varieté-Theater.«
Der