Will Hunt

Im Untergrund


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Jahre hinweg immer tiefer unter die Stadt vorgedrungen waren, hatten Fotos auf dem Plan befestigt, die zeigten, wo sich ein Abwasserkanal, ein Aquädukt, ein Geisterbahnhof oder andere, vor dem Auge der Öffentlichkeit verborgene Orte befanden. Begeisterung überfiel mich, als ich dort im Dunkeln hockte und diesen Atlas der unsichtbaren Stadt betrachtete, der sich selbst ebenfalls an einem unsichtbaren Ort befand: Es war eine Art Schrein für all das, was ich in den Jahren als Explorer unter New York gesucht hatte. Zugleich fühlte ich mich seltsam entfremdet von dieser Begeisterung, als stamme sie aus einem Teil meines Gehirns, zu dem ich keinen wirklichen Zugang hatte.

      In diesem Augenblick, in dem ich im Staub tief unter der Stadt hockte, wurde mir klar, wie wenig ich über mein Verhältnis zum Untergrund wusste. Und wie wenig ich über das Verhältnis der Menschheit zur unterirdischen Landschaft im Allgemeinen wusste, das zurückreicht bis zum ersten schwachen Aufflackern der Menschengeschichte.

      Bei einer Wanderung durch die Toskana stieg Leonardo da Vinci über ein paar Felsen und gelangte zum Eingang einer Höhle. Er stand dort im Schatten, spürte die kühle Brise auf seinem Gesicht, starrte ins Dunkel und wusste nicht mehr weiter: »Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte, erwachten plötzlich in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Grotte, Verlangen aber, mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein mochte.«

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      Seit Anbeginn der Menschheit haben wir in Höhlen und unterirdischen Öffnungen gelebt; seitdem verursachen diese Orte bei uns starke, widerstreitende Gefühle. Evolutionspsychologen vermuten, dass die archaischsten Beziehungen zu unserer Umwelt nie völlig verschwinden, dass sie tief in unserem Nervensystem verankert sind und in unbewussten Instinkten zum Ausdruck kommen, die unser Verhalten immer noch bestimmen. Der Ökologe Gordon Orians nennt diese übrig gebliebenen Urtriebe »die evolutionären Geister längst vergangener Umwelten«. Bei meinen Ausflügen unter New York liefen bei mir jedes Mal, wenn ich in den dunklen Schlund eines Tunnels oder in die Tiefen eines Kanalisationsschachts spähte, unbewusst die verschütteten Impulse ab, die ich von meinen Vorfahren geerbt hatte, die vor langer, langer Zeit am Eingang dunkler Höhlen gehockt und überlegt hatten, ob sie hineingehen sollten oder nicht.

      Unter der Erde sind wir Fremde. Die Evolution hat uns in jeder nur vorstellbaren Weise – von den Bedürfnissen des Metabolismus über den Aufbau unserer Augen aus Stäbchenzellen bis hin zur geleeartigen Tiefenstruktur unseres Gehirns – darauf eingestellt, an der Oberfläche zu bleiben und nicht in den Untergrund zu gehen. Der aphotische Bereich einer Höhle – Fachausdruck für den Teil der Höhle, in dem es keinerlei Zwielicht mehr gibt, keine letzten Lichtreste, die lichtlose Zone – ist die Geisterbahn der Natur, der Inbegriff unserer tiefsten Ängste. Dort wohnen Schlangen, die zuckend von der Höhlendecke herunterhängen, Spinnen so groß wie Chihuahuas und Skorpione mit Stachelschwänzen – Tiere, vor denen wir uns aufgrund unserer Evolutionsgeschichte fürchten, weil so viele unserer Vorfahren von ihnen umgebracht wurden. Bis vor ungefähr fünfzehntausend Jahren waren Felsgrotten in aller Welt Wohnort von Höhlenbären, Höhlenlöwen und Säbelzahntigern. Was heißt, dass sich unsere Spezies seit ihrem Bestehen (abgesehen vom letzten kurzen Blinzeln) darauf gefasst machen musste, beim Anblick einer Höhle von einem menschenfressenden Untier aus dem Dunkeln angefallen zu werden. Und so flackert auch heute noch die Angst vor gefährlichen Tieren in uns auf, sobald wir im Finstern stehen.

      Angepasst an das Leben in der afrikanischen Savanne, wo wir bei Tageslicht als Jäger und Sammler unterwegs waren, aber im Dunkeln nachtaktive Raubkatzen fürchten mussten, hat uns die Dunkelheit immer beunruhigt. Die unterirdische Finsternis – die »blinde Welt«, wie Dante sie genannt hat – ist in der Lage, unser gesamtes Nervensystem zusammenbrechen zu lassen. Die europäischen Pioniere der Höhlenforschung gingen davon aus, dass ein längerer Aufenthalt unter der Erde ihre Psyche dauerhaft schädigen würde, wie es der Erforscher einer Höhle in Somerset, England, im siebzehnten Jahrhundert beschrieb. »Wir fingen an, uns vor einem Besuch zu fürchten, denn obgleich wir die Höhle ausgelassen und heiter betraten, kehrten wir traurig und nachdenklich daraus zurück, und wir lachten bis an unser Lebensende nie mehr.« In gewisser Weise hat sich diese Furcht als berechtigt erwiesen, da zahlreiche neurowissenschaftliche Experimente gezeigt haben, dass ein ausgedehnter Aufenthalt in vollkommener Lichtlosigkeit psychische Verwirrung auslösen kann. In den 1980er-Jahren nahm ein Mann an einer Expedition in die Sarawak-Kammer im Gunung Mulu Nationalpark auf Borneo teil. Er betrat einen riesigen Höhlenraum – so groß, dass siebzehn Fußballplätze hineingepasst hätten, einer der größten unterirdischen Hohlräume der Welt – und verlor die Höhlenwand aus den Augen: Der Mann irrte ziellos in der unendlich scheinenden Dunkelheit herum, verfiel in eine Schocklähmung und musste von seinen Begleitern an die Oberfläche gebracht werden. Solche von der Dunkelheit ausgelösten Panikattacken sind in der Szene als »The Rapture« bekannt: Angst, Rausch und Entrückung.

      Das Gefühl, eingeschlossen zu sein, bringt uns aber auch zum Durchdrehen. Unter der Erde in einem Spalt festzustecken und sich nicht mehr bewegen zu können, abgeschnitten vom Licht, mit langsam weniger werdendem Sauerstoff, ist vielleicht der Inbegriff des Albtraums schlechthin. Der römische Philosoph Seneca beschrieb einmal eine Gruppe antiker Silberschürfer, die tief unter die Erde stiegen und dort Dinge sahen, die dafür sorgten, dass »manche wie toll und vom Donner gerührt herumliefen«, unter anderem ausgelöst durch den psychischen Druck der Landmasse, »die über ihren Köpfen hing«. Dieses Gefühl wurde auch von Edgar Allan Poe sehr treffend beschrieben, dem genialen Dichter der Klaustrophobie. Er schrieb über das Gefühl, lebendig begraben zu sein: »Es ist nicht zu viel gesagt mit der Behauptung, dass kein Ereignis so grauenvoll geeignet ist, Leib und Seele aufs Äußerste zu schrecken, wie das Lebendigbegrabensein. Der unerträgliche, atemraubende Druck – die erstickenden Dünste der feuchten Erde – das hemmende Leichengewand – die harte Enge des schmalen Hauses – das Dunkel vollkommener Nacht – die alles verschlingende Woge ewiger Stille –«. In einem unterirdischen Hohlraum verspüren wir vielleicht nicht unbedingt den vollen Ansturm der Panik, aber zumindest eine Ahnung davon, wenn wir uns vorstellen, dass Decken und Wände immer näher kommen und uns allmählich einschließen.

      Letztendlich ist es der Tod, den wir am meisten fürchten: Alle unsere Aversionen gegen die Dunkelheit kulminieren in der Angst vor unserer eigenen Sterblichkeit. Unsere Spezies hat, den Funden in der Qafzeh-Höhle in Israel zufolge, seit mindestens hunderttausend Jahren ihre Toten in der Dunkelheit von Höhlen begraben, und lange davor haben unsere Neandertaler-Vorfahren es ähnlich gemacht. In religiösen Traditionen auf der ganzen Welt gleichen die Beschreibungen des Totenreichs lichtlosen Höhlenräumen: Körperlose Schatten treiben durch konturlose Dunkelheit. Selbst in Kulturen, die in höhlenlosen Landschaften siedeln und nie in Kontakt mit unterirdischen Räumen kommen – wie zum Beispiel die Völker der Kalahari-Wüste oder der sibirischen Steppe –, gibt es Mythen von einem vertikalen Kosmos mit einer unterirdischen Sphäre, in der es vor Geistern wimmelt. Sobald wir die Schwelle einer Höhle übertreten, spüren wir eine reflexartige Vorahnung unseres eigenen Todes, was heißen soll, dass wir mit dem einen Ding in Berührung kommen, auf dessen Vermeidung uns die natürliche Auslese konditioniert hat.

      Und trotzdem zögern wir vielleicht an der Schwelle zum Untergrund, aber dann betreten wir ihn doch. An jenem Tag in der Toskana stieg Leonardo da Vinci natürlich hinunter in die Finsternis. (In einer Höhlenwand tief im lichtlosen Bereich entdeckte er die Fossilien eines Wals, was ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigen und inspirieren sollte.) Praktisch jeder zugängliche Höhlenraum des Planeten weist Spuren unserer Vorfahren auf. Archäologinnen und Archäologen sind auf dem Bauch durch schlammige Gänge in den Höhlen Frankreichs gerobbt, haben lange unterirdische Flüsse in Belize durchschwommen und viele Meilen im Innern der Kalksteinhöhlen Kentuckys zurückgelegt: Überall haben sie die Spuren unserer Vorfahren gefunden, die durch Felsspalten in die Erde geklettert sind und sich mit Harzfackeln oder Talglichtern den Weg durchs Dunkel gesucht haben. Dort begegneten unsere Ahnen einer fremden Welt, die völlig von dem abgetrennt war, was sie auf der Erdoberfläche kannten: eine Welt, die dunkler war als jede Nacht, in der die Echos hallten und Stalagmiten wie Zähne von Drachen aus der Erde ragten. Ausflüge in die lichtlose Zone sind möglicherweise die älteste kontinuierliche Kulturpraxis der Menschheit. Die archäologischen Hinweise auf Besuche