Will Hunt

Im Untergrund


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durchkreuzten das Dunkel. Mit den Füßen blieben wir im Schlamm stecken, die Luft war feuchtwarm. Von der Decke hingen perlweiße, warzenartige Stalaktiten, an denen Wasser herunter- und uns auf die Köpfe tropfte. In der Mitte des Tunnels machten wir eine Mutprobe und schalteten die Taschenlampen aus. Als alles um uns herum in Finsternis versank, stießen meine Freunde Freudenschreie aus, um den Hall ihres Echos zu hören, aber ich hielt den Atem an und stand wie angewurzelt da – als könnte ich bei der kleinsten Bewegung abheben und davonschweben. An diesem Abend kramte ich zu Hause einen alten Stadtplan von Providence hervor. Ich verfolgte mit dem Finger, wo wir den Tunnel betreten hatten und wo er auf der anderen Seite wieder herauskam. Ich blinzelte: Der Tunnel führte fast genau unter meinem Elternhaus hindurch.

      In jenem Sommer stieg ich, wenn alle anderen unterwegs waren, immer wieder in die Gummistiefel und ging den Tunnel erforschen. Was mich dort unten so anzog, hätte ich nicht erklären können, ich ging nie mit einer konkreten Absicht in die Dunkelheit. Ich schaute mir die Graffiti an oder kickte leere Bierflaschen herum. Manchmal stellte ich meine Lampe aus, nur um zu sehen, wie lang ich es im Dunkeln aushielt, bevor meine Nerven mit mir durchgingen. Als Sechzehnjähriger machte ich mir nicht besonders viele Gedanken über mein Wesen, hatte aber trotzdem das vage Gefühl, dass diese Unternehmungen nicht direkt zu meinem Charakter passten: Ich war ein unsicherer, dünner Teenager mit Bücherwurmbrille und Zahnlücke. Als meine Freunde längst mit Mädchen herummachten, hatte ich immer noch ein Terrarium mit Baumfröschen im Zimmer stehen. Etwas über die Abenteuer anderer Leute in Büchern zu lesen, fand ich gut, aber ich war nicht scharf darauf, selbst welche zu erleben. Aber irgendetwas an dem Tunnel ging mir unter die Haut: Ich lag nachts im Bett und dachte daran, dass er unter unserer Straße verlief.

      Gegen Ende dieses Sommers betrat ich den Tunnel nach einem starken Regenguss, und mir schallte aus dem Dunkel unerwarteter Lärm entgegen. Erschreckt wollte ich umdrehen, beschloss dann aber doch weiterzugehen, obwohl das Getöse immer lauter wurde. Tief im Tunnel sah ich, woher es stammte: Aus einem Spalt in der Decke – einem geplatzten Rohr vielleicht – strömte das Wasser in Kaskaden zu Boden. Direkt unter dem Wasserfall stand ein umgedrehtes Kindereimerchen. Daneben ein Farbeimer. Ich sah eine Riesenkollektion umgedrehter Behälter – Ölfässer, Bierbüchsen, Tupperdosen, Benzinkanister, Kaffeedosen –, alle unter mysteriösen Umständen von einem Unbekannten zu einem Orchester angeordnet. Das Wasser trommelte auf die hohlen Gefäße und ließ Harmonien und Echos erklingen, und ich stand wie angewurzelt im Dunkeln.

      Jahre vergingen, und ich vergaß meine Spaziergänge unter der Erde. Ich zog weg aus Providence, ging aufs College, wurde erwachsen. Aber meine alte Liebe zum Untergrund verschwand nie vollständig. So wie ein Samenkorn unbemerkt Wurzeln schlägt und verborgen in der Erde keimt, bevor es nach oben austreibt, so reiften auch die Erinnerungen an den Tunnel irgendwo tief in meinem Hinterkopf. Erst viel später, nach einer Reihe überraschender Begegnungen im unterirdischen New York, kehrten meine Erinnerungen an den Tunnel und den rätselhaften Altar aus Eimern wieder zurück. Doch dann packten mich die Erinnerungen mit einer Wucht, die mein gesamtes Denken und Leben auf den Kopf stellte.

      Ich verliebte mich in die Stille und den Widerhall der unterirdischen Welt. Selbst der kürzeste Ausflug unter die Erde war wie eine Flucht in eine parallele Realität – so wie Figuren in Kinderbüchern eine geheime Welt betreten. Ich liebte die Möglichkeiten zu wilden, unterirdischen Tom-Sawyer-Abenteuern – wo immer auch eine Konfrontation mit den ältesten, tiefsten Grundängsten der Menschheit auf mich wartete. Meinen Freundinnen und Freunden erzählte ich für mein Leben gern Geschichten aus dem Untergrund – von unter Großstadtstraßen gefundenen Reliquien und Ritualen in tiefen Höhlen – und liebte es, das Staunen in ihren Augen zu sehen. Am stärksten fühlte ich mich zu den Träumern, Visionären und Exzentrikern hingezogen, die sich im Untergrund zu Hause fühlten: den Menschen, die den Sirenengesang der unterirdischen Welt gehört hatten und in der Unterwelt auf Forschungsreisen gingen, Kunst machten oder beteten. Menschen, die sich ihrer Leidenschaft auf eine Art hingaben, die ich zu verstehen meinte oder zumindest verstehen wollte. Paradoxerweise hoffte ich, tief unten im Dunkeln vielleicht so etwas wie Erleuchtung zu finden.

      Im Lauf der Jahre überzeugte ich eine Forschungseinrichtung, mehrere Zeitschriften und dann einen Buchverlag davon, mich finanziell zu fördern; dieses Geld und noch viel mehr gab ich für die Erforschung unterirdischer Räume in den verschiedensten Teilen der Welt aus. Mehr als zehn Jahre lang kroch ich durch Katakomben und unbenutzte U-Bahn-Stationen, heilige Höhlen und Atombunker. Anfangs wollte ich nur meine eigene Faszination für die Tiefe verstehen, wurde aber mit jedem Abstieg empfänglicher für die Resonanzen der unterirdischen Landschaft. Eine universellere Geschichte trat zutage. Ich verstand, dass wir – wir alle, die Gattung Mensch – immer den leisen Sog der Welt unter unseren Füßen spüren und mit ihr so verbunden sind wie mit unserem eigenen Schatten. Seit unsere Vorfahren sich zum ersten Mal Geschichten erzählten über die Landschaften, die sie bewohnten, erfüllen uns Höhlen und andere Abgründe immer mit Angst und Begeisterung zugleich, prägen unsere Albträume und Fantasien. Wie ich herausfand, ziehen sich unterirdische Welten wie ein unsichtbarer Faden durch die Menschheitsgeschichte: Auf fast unmerkliche, aber tief greifende Art und Weise haben sie unser Denken und unser Menschsein geformt.

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      Für mich öffnete sich der Untergrund zunächst ganz langsam, ein kleiner, splitteriger Spalt nach dem anderen – und dann mit einem Ruck, als ginge eine Falltür unter meinen Füßen auf. Es fing in meinem ersten Sommer in New York an, als ich bei einer Zeitschrift in Manhattan arbeitete und bei meinen Verwandten in Brooklyn wohnte: bei Tante, Onkel und meinen Cousins Russell und Gus. Als Teenager hatte ich jahrelang von New York geträumt und mir vorgestellt, wie ich lange, ekstatische Spaziergänge durch das nächtliche Manhattan unternehmen und das Licht aus den Fenstern der unzähligen Hochhauswohnungen gierig in mich aufsaugen würde, und nun war ich da und fand keinen Zugang zur Stadt. In Menschenmassen wurde ich ganz klein, stammelte, wenn ich im Eckladen etwas kaufen wollte, stieg am falschen U-Bahnhof aus, irrte wie ein ahnungsloses Landei in Brooklyn umher und traute mich nicht, jemanden nach dem Weg zu fragen.

      Eines Nachts, sehr spät, als ich mich besonders von der Stadt eingeschüchtert fühlte, wartete ich in Downtown Manhattan auf die U-Bahn, an einem der tiefen Gleise, auf denen man in einer Sommernacht den Granituntergrund der Stadt fast riechen kann, als ich etwas Verblüffendes sah. Aus der Dunkelheit des Tunnels tauchten zwei junge Männer auf: Sie trugen Stirnlampen, und ihre Gesichter und Hände waren schwarz vor Ruß, als wären sie tagelang in einer tiefen Höhle herumgeklettert. Sie gingen im Geschwindschritt über das Gleis, kletterten direkt vor meinen Füßen auf den Bahnsteig und verschwanden die Treppe hinauf. An diesem Abend drückte ich mir die Nase am U-Bahn-Fenster platt, bis das Glas beschlug, und stellte mir vor, dass unter den Straßen alles von geheimen Hohlräumen durchzogen war wie in einer Bienenwabe.

      Die jungen Männer mit den Stirnlampen waren Urban Explorer oder Urbexer, Teil eines losen Zusammenschlusses von New Yorkern, die in ihrer Freizeit die verbotenen und versteckten Räume unterhalb der Stadt aufsuchten. Es war ein bunt gemischtes Völkchen: Manche waren Historiker, die den Glanz der vergessenen Orte der Stadt dokumentieren wollten; andere waren Aktivisten, die durch dieses verbotene Eindringen das von Unternehmen beanspruchte Privatgelände zurückeroberten; wieder andere waren Künstler, die Installationen und Performances in den verborgenen Schichten der Stadt schufen. In jenen ersten Wochen, in denen ich einfach nicht mit New York warm wurde, war ich oft bis spätabends wach und betrachtete Fotos geheimer Orte – seit Jahrzehnten stillgelegte Geisterbahnhöfe, tiefe Ventilkammern der Wasserversorgung, staubbedeckte, lang vergessene Luftschutzbunker – und all das kam mir so exotisch und mysteriös vor wie durch die Tiefsee schwimmende Meeresungeheuer.

      Es war Abend, ich surfte durch das Onlinearchiv eines Urban Explorers, und mit einem Mal sah ich mich verblüfft einem Bild des Tunnels gegenüber, den ich als Junge in Providence erforscht hatte: Seit Jahren hatte ich nicht mehr an die ins Dunkel führende Gleisspur oder die Jahreszahl »1908« über dem Tunneleingang gedacht. Dieses zufällige Wiedersehen wirkte beunruhigend intim auf mich, als hätte jemand in meinen Kopf gefasst, eine Luke geöffnet, und ein ganzes Floß untergegangener Erinnerungen wäre zurück an die Oberfläche getrieben. Ich fand heraus, dass der Fotograf Steve Duncan hieß: