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Es geschah in Heiliger Nacht


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gehabt hat: Ein gewöhnlicher Schutzengel hätte vielleicht nicht genügt diesmal.

      Er ist dann weggegangen, eh wir ihm die Hand geben konnten.

      Eugen Roth

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      Der du die Welt geschaffen hast,

      kommst Jahr um Jahr, wirst unser Gast.

      Und Jahr um Jahr heißt’s überall:

      für uns das Haus, für ihn den Stall.

      Und Jahr um Jahre führt der Pfad

      von Bethlehem zur Schädelstatt.

      Der Jahr um Jahr ihn kundgetan,

      begreift der Engel Gottes Plan?

      Begreift der Wirt, ihm kommt zugut

      des fremden Gasts vergossen Blut?

      Begreife, wer begreifen kann.

      Wir knien im Staub, wir beten an.

      Rudolf Alexander Schröder

      Der Letzte von der Einigkeit

      Sie werden verstehen, dass ich nicht gerade zum Himmel emporgejubelt habe, als der vermischte Doktor mich am ersten Weihnachtstag anrief, kurz nach 22 Uhr, und mir eröffnete, ich müsse am nächsten Morgen im Krankenhaus zu Esens einen Steuermann namens Leiss besuchen, der sich mit seinem Küstenmotorschiff zwischen Langeoog und Baltrum ein tolles Stück geleistet habe. Der vermischte Doktor macht die Seiten »Unterhaltung und Vermischtes« bei unserer Zeitung. »Vermischtes« bedeutet Mord und Totschlag. Das kennen Sie ja. Deshalb heißt er so. »Der Kahn ist bei Windstärke 9 gekentert«, sagte er, »heute Mittag, heißt, glaube ich, Einigkeit. Der Kapitän und der Junge sind über Bord gegangen. Steuermann Leiss hatte Freiwache und wurde im Logis eingeschlossen. Nach drei Stunden hat die See den Kahn auf eine Sandbank vor Langeoog geworfen. Dann ist ein Hubschrauber von der Bundeswehr gekommen, hat den Mann herausgeholt und nach Esens ins Krankenhaus gebracht. Direkt vor die Haustür. Und nun sehen Sie mal zu, wie Sie die Sache in den Griff kriegen. Da sitzt nämlich Musik drin. Wenn Sie sich heranhalten, können Sie mir Ihren Bericht bis 18 Uhr auf den Schreibtisch legen. Mit Bild. Alles klar?«

      Natürlich war alles klar. Was sollte ich machen? Dabei war gar nichts klar.

      Übrigens: Nadolny ist mein Name. Bastian Nadolny. Wir wollten am zweiten Weihnachtstag nach Lübeck, Lille und ich.

      Als wir am anderen Morgen losfuhren, waren die Straßen leer. Trotzdem musste ich aufpassen, weil die Sturmstöße den Wagen wegdrückten. Mit Lille zu fahren ist wie Geburtstag haben. Sie benimmt sich genau so, wie eine Frau sich benehmen muss, wenn sie mit einem Mann im Auto fährt. Macht es mit ihrem bloßen Dasitzen schon festlich. Sie nennt mich Bass, wegen Bastian und wegen meiner tiefen Stimme. Aber das gehört nicht hierher. Was hierher gehört, ist Folgendes: Im Krankenhaus von Esens sagte die Schwester mir, den Steuermann habe seine Frau gerade weggeholt.

      »Lebendig?«, fragte ich.

      Es habe so ausgesehen. Woher ich käme? Aus Bremen? Dann müsse ich ihnen begegnet sein. In einem kleinen Volkswagen. Vor zwei Stunden.

      »Adresse?«, sagte ich.

      Sie hatte die Adresse wahrhaftig da: Bremen, Kleine Meinkenstraße 17.

      »Wissen Sie was, Schwester?«, sagte ich.

      »Nein«, sagte sie.

      »Ich wohne in der Sonnenstraße«, sagte ich. »Wenn ich um die Ecke biege, habe ich die Kleine Meinkenstraße gerade vor meiner Nase. Stattdessen fahre ich am heiligen zweiten Weihnachtstag geschlagene zwei Stunden durch Regen, Sturm und Dreck hierher. Zum Weinen. Warum ist er denn nicht hier geblieben?«

      »Sowie er seine Stimme wieder fühlte, hat er mit seiner Frau telefoniert und nicht eher Ruhe gelassen, bis sie versprochen hat, ihn wieder nach Hause zu holen. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.«

      Kurz vor 15 Uhr bogen wir in die Kleine Meinkenstraße ein. Nummer 17 war ein kleines, schmales Haus. Ehe wir klingeln konnten, wurde die Wohnungstür geöffnet. Ein Herr verabschiedete sich von Frau Leiss: »Ich habe ihn zwar erst einmal krankgeschrieben, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Auf jeden Fall sehe ich morgen früh noch einmal herein.« Der Arzt also. Wir ließen ihn vorbei und wandten uns Frau Leiss zu, die uns mit betonter Zurückhaltung musterte.

      Steuermann Leiss lag auf dem Sofa. Er trug eine grüne, halb zugeknöpfte Strickjacke über einem wollenen Hemd mit offenem Kragen. Als er uns erblickte, setzte er sich auf und schob die Füße unter den Tisch.

      »Du sollst in die Zeitung, Alwin«, sagte Frau Leiss. »Sie wollen dich aufnehmen. – Entschuldigen Sie, Ihren Namen habe ich schon wieder vergessen.«

      Ich sagte, sie müsse aber mit auf das Bild. Dann stellte ich mich und Lille dem Steuermann vor.

      »Angenehm«, sagte er und erhob sich ein bisschen. »Leiss.«

      Er sah erschreckend mager aus. Die lange, dünne Nase ging an der Spitze etwas nach oben. Ich fragte ihn, ob er schon etwas Neues von dem Kapitän und dem Jungen gehört habe. Dabei wies ich mit dem Kopf auf das Fernsehgerät, das auf der breiten Kommode neben einem spärlich geschmückten Tannenbäumchen stand.

      »Nein«, sagte er, »sie haben nichts mehr darüber gebracht. Schon vergessen.«

      »Wir vergessen Sie aber nicht«, sagte ich. »Und deshalb wollen wir erst einmal ein paar Aufnahmen von Ihnen machen. Wenn Sie erlauben. An die Arbeit, Fräulein!«

      »Hol mal was zu trinken, Mutter!«, sagte der Steuermann. »Mögen Sie echten Genever, aus Schiedam?« Er sprach es wie Ss-chiedam aus.

      »Ein Gläschen traue ich mir wohl zu«, sagte ich, »aber mehr nicht. Ich muss ja fahren.«

      »Und das Fräulein?«

      »Dasselbe«, sagte Lille, während sie den Belichtungsmesser vor die Brust des Steuermanns hielt. »Achteinhalb Schein. Wir nehmen am besten die chromatische Superanastigmat mit Blende 11 und Gummilinse.«

      Lauter Unsinn. Sie hat keine Ahnung vom Fotografieren. Aber es klang so wunderbar unverständlich, dass Frau Leiss ein ergriffenes Gesicht machte. Unverständlichkeit bewirkt immer Hochachtung. Davon lebt heutzutage die Kunst.

      Während der Aufnahmen kamen wir ins Gespräch über das Kentern und die Strandung der Einigkeit. Der Steuermann hatte sich mit dem neuen Kapitän, einem Hamburger, nicht verstanden. Schon bei der Ausreise waren sie aneinandergeraten. Und auf der Westerems noch mehr.

      »Westerems«, sagte ich, »woher kamen Sie denn?«

      »Von Delfzijl. Ich hielt es für unverantwortlich, mit dem kleinen Schiff in das harte Wasser hineinzugehen. Wir hatten nur vierzehn Tonnen Ladung im Raum. Tee und Seidenpapier. Aber mit dem Kapitän war nicht zu reden. Er wollte und wollte am ersten Weihnachtstag in Hamburg sein, und da gab es nichts. Gott mag wissen, was auf dem Spiel stand.« Als sie gegen Mitternacht von Delfzijl ablegten, hatte der Steuermann das Ruder. Der Kapitän ging zur Koje und der Junge auch. Bei wachsendem Westnordweststurm und auflaufendem Wasser schlingerte die Einigkeit die Westerems hinunter, immer am Tonnenstrich entlang. Querab von Borkum traf sie das Wetter mit voller Gewalt. Der Steuermann musste die Fahrt herabsetzen. Das war gegen 6 Uhr morgens. Kurz vor 7 Uhr weckte er den Kapitän, weil der Diesel nicht einwandfrei arbeitete. Dann aß er ein paar Scheiben Brot mit Speck, trank einen Schluck, zog die Gummistiefel aus und warf sich in die Koje. Im nächsten Augenblick