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Es geschah in Heiliger Nacht


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sank weg, fing sich und ruckte hoch.

      Ja, was nun? Er stand schwankend da und stierte in die Dunkelheit. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte doch alles längst vorbei sein müssen. Aber die Einigkeit musste so schnell gekentert sein, dass sie nicht hatte volllaufen können und dass sich eine Luftblase in der Kajüte gefangen hatte, die ihm das Atmen ermöglichte wie in einer Taucherglocke.

      Wo mochten sie jetzt sein, das Schiff und er? Seine Armbanduhr zeigte ein Viertel nach 13 Uhr. Dann hatte die Flut schon eingesetzt. Dadurch verringerte sich die Gefahr, dass die Einigkeit auf die Schifffahrtsstraße geriet und von einem großen Pott vollends unter Wasser gedrückt wurde. Flut und Wind drängten sich gegen die Inseln. Das konnte die Rettung bedeuten. Hoffentlich hielt die Luft noch so lange vor.

      Zuerst hatte ihm die Kälte am meisten zugesetzt. Aber mit der Zeit nahm die Einsamkeit überhand, sie quälte ihn noch mehr als die Kälte. So sehr, dass er ein paar Mal in Versuchung kam aufzugeben. »Ich habe keine weichmütige Natur«, sagte er, »das dürfen Sie mir glauben. Aber es war, als ob mir die Wände immer näher auf den Leib rückten in der Finsternis. Und ich hatte keine Hilfe und konnte nicht weg. Schön ist das nicht.« Er griff nach der Flasche. »Trinken Sie aus! Oder hätten Sie lieber ein Bier? Mutter, hol mal Bier aus dem Kühlschrank!«

      »Nein, nein«, sagte ich. »Danke, ich darf ja nicht.«

      Lille trank ihr Glas aus, zog es dann an sich und schüttelte den Kopf. »Ich danke auch. Aber ich möchte Sie wohl etwas fragen.«

      »Fragen Sie nur, kleines Fräulein.«

      Sie fasste wieder ihr Haar, so schräg von hinten, und schob es auf und ab. »Vorhin haben Sie gesagt, dass Ihre Armbanduhr noch ging.«

      »Ging noch tadellos. Hier.« Er streckte ihr sein Handgelenk entgegen. »Hat keinen Tropfen durchgelassen.«

      Lille schob noch immer ihr Haar auf und ab. »Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen das Ticken, wenn Sie die Uhr ans Ohr hielten, und die Leuchtziffern, ob Ihnen die nicht wie etwas Lebendiges vorgekommen sind in der Finsternis.«

      »Sieh mal an«, sagte der Steuermann. Er ließ den ausgestreckten Arm mit der Uhr auf dem Tisch liegen und richtete seine Augen auf Lille. »So war es tatsächlich. Wie kommen Sie darauf?«

      »Ich hätte Sie gern gefragt«, fuhr Lille fort, »ob Sie – oder ich will einmal so anfangen.« Sie spielte mit ihrem Glas. »Wenn Menschen – es braucht sich nicht einmal um eine so furchtbare Lage zu handeln wie Ihre – ich meine, wenn Menschen in großer Not sind und nicht mehr aus noch ein wissen, dann, na ja, dann kommt manchmal etwas über sie.«

      »Hm«, sagte der Steuermann.

      »Na ja, zum Beispiel, dass sie anfangen zu beten.«

      Der Steuermann sah vor sich hin, warf einen kurzen Blick auf Lille und sah dann wieder vor sich hin.

      Schweigen. Ich räusperte mich leise. Wieder Schweigen.

      Frau Leiss zupfte Lille am Ärmel ihres Pullovers und flüsterte ihr unter verstohlenem Nicken zu: »Er auch.«

      Der Steuermann schien es nicht gehört zu haben, er atmete tief aus: »Ich jedenfalls nicht.« Dann zog er die Luft wieder ein.

      »Das ist doch keine Schande, Alwin«, sagte Frau Leiss, »was du mir erzählt hast, ist doch keine Schande.«

      »Ich habe ja gar nicht richtig. Alles Unsinn. Nur so – wie das so geht – man will es nicht, man hat ganz was anderes im Sinn, man denkt, wie man hier herauskommen soll. Und dann ist noch was anderes da, wie ein Gestöhn irgendwo innen. Kann keiner was gegen machen. – Aber dass Sie mir ja nichts darüber schreiben, sonst werde ich verdammt unangenehm.«

      Ich wies seine Befürchtung mit beiden Händen zurück, zeigte auf Lille und erhob die Hände noch einmal.

      »Außerdem war ja auch Weihnachten«, sagte Lille.

      Frau Leiss stand auf. »Ach je, ich sollte dir ja … Du wolltest das ja noch nachlesen.«

      Aber der Steuermann befahl ihr mit einer unwilligen Bewegung zu bleiben. »Jetzt doch nicht.«

      Lille sah ihn an. Er fasste nach dem angebrochenen Tabakpäckchen und begann, sich die Pfeife zu stopfen. Als er fertig war, rauchte er schweigend vor sich hin. Ich überlegte, ob ich meinerseits etwas fragen sollte. Da fing er an zu sprechen.

      »Nach zwei Stunden hatte ich nur noch verdammt wenig Hoffnung. Ich merkte, dass der Sauerstoff in der Luftblase abnahm. Meine Augen konnten die Leuchtziffern kaum noch erkennen vor Taumeligkeit. Zwei Stunden in der Finsternis sind eine lange Zeit, das kann ich Ihnen sagen. Da ist man nicht mehr für das verantwortlich, was einem durch den Kopf kommt. Und was kommt einem da nicht alles durch den Kopf! Weihnachtstag. Daran denkt man natürlich auch, ist ja verständlich. Christi Geburt. ›Und es ging ein Gebot vom Kaiser Augustus aus.‹ Ich versuchte, ob ich es noch zusammenkriegte. Gleich der Anfang kam mir nicht ganz richtig vor. Mit einem Male hatte ich es: ›Und es begab sich, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging.‹«

      »›Zu der Zeit‹«, warf Lille ein.

      »Sehen Sie! Nicht einmal jetzt kriege ich es zusammen. Und in der Finsternis schon gar nicht. ›Da machte sich auch auf Joseph aus Nazareth, der Stadt Davids.‹ Oder stimmt’s wieder nicht?« Er wandte sich an mich. »Ich bin für so etwas nicht zuständig«, sagte ich.

      Lille schüttelte den Kopf.

      »Wahrscheinlich stimmt es nicht. Mir schummerte die ganze Zeit über, dass es nicht stimmte. Und schließlich gab ich’s auf. Aber dann sagte ich mir, es könnte ja sein – ich sage ja, worauf verfällt man nicht alles, wenn man so ins Ungewisse treibt, in den Tod und in was für einen Tod! Und da machte ich eine Wette gegen das Schicksal: Wenn ich die Geschichte richtig zusammenbrächte, dann würde ich doch noch gerettet. Junge, was habe ich mir den Kopf zergrübelt, dass ich es in die Erinnerung kriegte. Aber ich erwischte immer nur einen Fetzen. ›Und sie gebar einen Sohn in der Krippe, denn es war sonst kein Platz in der Herberge, und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in die Krippe, und die Engel verkündeten den Hirten: Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen.‹ So ungefähr. Ich weiß, dass es nicht stimmt, aber für mich stimmte es trotzdem. Ich hatte etwas, worauf ich meine Gedanken richten konnte, dass ich nicht unterging in der Finsternis, dass die Finsternis mich nicht unterkriegte.«

      »Es gibt noch eine andere Weihnachtsgeschichte«, sagte Lille. »Und das Licht scheint in der Finsternis.«

      »Mag sein«, sagte der Steuermann. »Ich kenne nur: ›Und es begab sich ein Gebot vom Kaiser Augustus.‹ Und das hat mich gerettet. Weil ich es nicht richtig konnte, hat es mich gerettet. Und darauf kommt es an.«

      »Und die Finsternis hat’s nicht begriffen«, fuhr Lille fort, aber so tonlos, dass es kaum zu verstehen war.

      »Gerettet«, sagte ich, »obwohl Sie die Wette eigentlich verloren hatten. Hören Sie, Herr Leiss, das mit der Weihnachtsgeschichte würde ich aber doch gern bringen.«

      »Auf keinen Fall«, sagte er.

      »Schade«, sagte ich. »Und dann?«

      »Ja, dann …« Er dehnte sich, indem er die Hand mit der Pfeife hochstreckte und mit der andern seinen Nacken rieb. »Kurz nach 16 Uhr kam der erste Stoß. Die Trümmer im Niedergang kreischten, im Laderaum rumpelte es, ich hielt den Atem an. Und da kam auch schon der nächste Stoß. Das Schiff saß auf Grund. Auf Grund, meine Herrschaften! Mit ungeheurer Wucht donnerte die Brandung darüber hin. Jeder Brecher lüftete es an und schob es ein Stück vor sich her. Und dann rollte einer heran, der es nicht weiterschob, sondern umdrehte. Wie wenn ein Riese sich mit seiner Schulter von unten dagegenstemmte und es umdrehte. Jetzt brauchte ich nicht mehr mit der Luft zu sparen. Ich pumpte mir die Lunge voll und tauchte nach dem Türknopf. Er war auch jetzt wieder unter Wasser. Ich drehte ihn um, und die Tür ging wahrhaftig auf, nicht weit, aber doch so weit, dass ich mich hindurchzwängen konnte. Das Eisengewirr und das zersplitterte Holz, die den Niedergang versperrt hatten, mussten sich beim Umdrehen verschoben haben. Ich